Bünyamin Oskay (33) auf Karriere-Katapult Castrop-Rauxeler zeigt, wie Bildung für alle funktioniert

Bünyamin Oskay (33) und das Chancenwerk als Karriere-Katapult
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Wo wäre Bünyamin Oskay heute, wenn es das Chancenwerk oder den Vorgängerverein IBFS, also den Interkulturellen Bildungs- und Förderverein für Schüler und Studenten, ab 2004 nicht gegeben hätte. Der 33-Jährige überlegt kurz. Dann sagt er: „Wenn es das nicht gegeben hätte, hätte ich wohl einen anderen Weg eingeschlagen. Er hat mir aber geholfen, meinen Abschluss zu schaffen.“

Oskays Wurzeln liegen in der Türkei. Besser gesagt die seiner Vorfahren. Sein Großvater kam ins Ruhrgebiet, um erst in Herten, später in Castrop-Rauxel im Bergwerk zu arbeiten. Die Familie lebte zuerst in Obercastrop, der Mann fuhr auf der nahegelegenen Zeche Erin ein.

Als Bünyamin Oskay Anfang der 90er-Jahre geboren wurde, da war die Zeit des Bergbaus vorbei. Da war die Zeche bis auf das Fördergerüst abgerissen, da entwickelten sich die Pläne für einen ganz neuen Erin-Park. Aber die Probleme der dritten Gastarbeiter-Generation, die waren nie weg. Sie sind es bis heute nicht. Junge Menschen mit Migrationshintergrund haben es schwerer, hohe Bildungsabschlüsse zu erreichen. Und wenn das Chancenwerk nicht wäre mit seinen Ideen und seinem Engagement über fast 20 Jahre, es wäre wohl noch dramatischer.

Chancenwerk: „Das ist Wahnsinn“

„Was daraus heute geworden ist, ist der Wahnsinn“, sagt Bünyamin Oskay. Murat Vural bezeichnet er bis heute als seinen Mentor. Etwa zehn Jahre älter, „wie ein großer Bruder für uns, der uns gezeigt hat, wie unser Weg verlaufen kann“, so der Ickerner heute.

Murat Vural (47) aus Castrop-Rauxel ist zusammen mit seiner Schwester Şerife (46) zu verdanken, dass Oskay und seine Freunde und nach ihnen Hunderte, Tausende Jugendliche in den Genuss von sonst oft sehr teurer Nachhilfe kamen. Denn Anfang der 2000er, als beide mitten im Uni-Leben steckten und an ihren Abschlüssen und an der Doktorarbeit werkelten, da sagte Şerife Vural diesen einen Satz zu Murat: „Bruder, wir müssen was tun!“

Bünyamin Oskay im Jahr 2007 mit Murat Vural, dessen Cousin Seydi Ahmet Güngör und Murats Bruder Tecelli Vural (v.l.): "Wir waren wie eine große Familie", erinnert sich Bünyamin Oskay.
Bünyamin Oskay im Jahr 2007 mit Murat Vural, dessen Cousin Seydi Ahmet Güngör und Murats Bruder Tecelli Vural (v.l.): „Wir waren wie eine große Familie“, erinnert sich Bünyamin Oskay. © privat

Einige Monate später gingen sie in die Moschee der Gemeinde Aya Sofia im Castrop-Rauxeler Stadtteil Ickern. Sie boten dort Unterricht an. Nachhilfe für Kinder und Jugendliche im Gruppenunterricht. „Ich war einer der ersten Schüler damals, in der 8. oder 9. Klasse an der Gesamtschule. Da hat Murat das Nachhilfeprogramm vorgestellt. Mein Vater sagte mir zu der Zeit: ‚Deine Noten sind nicht schlecht, aber es kann noch besser werden.‘ Zweimal in der Woche haben wir dann Hausaufgabenbetreuung bekommen“, erzählt Bünyamin Oskay. „Es war wie eine kleine Familie.“

Er habe weit mehr gelernt als Mathe. „Murat-Abi“, sagt Oskay – und das Abi steht für „Bruder“ – „ist ein Spitzen-Typ. Wir haben die Tage gezählt bis zum nächsten Treffen. Es war eine der besten Zeiten meines Lebens. Murat-Abi kann man jederzeit anrufen, wenn man ihn braucht. Er war von klein an für mich immer da.“ Stichwort Abi: 2,6 lautete der Notendurchschnitt von Bünyamin Oskay. Sprachen, das sei so gar nichts für ihn gewesen. Aber Mathe, da war er gut. Auch dank Murat Vural.

„Ich zeige euch einen Trick“

„Wir haben unsere Schulbücher mitgebracht zum Unterricht. Er hat sich das dann fünf Minuten angesehen und gesagt: ‚Ja, das kann man so machen, aber ich zeige euch einen Trick, wie es noch besser geht.‘ Und dann hat er uns gezeigt, wie es einfacher ist. Lustig, amüsant, mit guten Beispielen. Meine Lehrer waren so staubtrocken, bei ihm hat das richtig Spaß gemacht. Auch wenn er manche Sachen siebenmal, achtmal, 15-Mal erklären musste.“

Im Mai 2022 heiratete Bünyamin Oskay. Murat Vural war einer seiner Gäste. Mit seinem „Mentor“, wie er sagt, machte er ein Foto. Vural, der damals auch im neuen Integrationsrat der Stadt Castrop-Rauxel aktiv war, etablierte die Nachhilfe; sie zog aus der Moschee um in die Schule, nahm später immer mehr Schüler mit, auch die ohne Migrationshintergrund, die Schwächen hatten. Der Verein wuchs. Heute sind seine Räume Am Markt 18 in Castrop. Allein dort arbeiten 40 festangestellte Mitarbeiter. Murat Vural ist Vorsitzender des Vereins und mit seiner Schwester auch Geschäftsführer eines bundesweit agierenden Unternehmens.

Zwei Studenten im Jahr 2020 beim Unterricht in der Chancenschule in der Castroper Altstadt.
Zwei Studenten im Jahr 2020 beim Unterricht in der Chancenschule in der Castroper Altstadt. © Said Rezek (2020)

„Wir haben damals Späße daraus gemacht, dass es mal ein großes Projekt wird“, sagt Bünyamin Oskay. „Das hätte niemand für möglich gehalten.“ Es war die Vural-Vision, und die wurde wahr. Am 12.5.2023 erhielt der e.V. den Stiftungspreis der Helga und Edzard Reuter-Stiftung. Stiftungsgründer Edzard Reuter und Bundesminister Cem Özdemir trafen in Berlin auf Murat Vural und Şerife Vural-Banik und überreichten ihnen einen Sieger-Scheck in Höhe von 20.000 Euro.

Es ist bei weitem nicht der erste Preis, den der Verein gewinnt. Aus den Preisgeldern refinanziert sich seine Arbeit. Die Homepage ist voll mit Siegeln und Auszeichnungen. Murat Vural erhielt 2010 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Initiativen wie „Schüler helfen Schülern“ erwuchsen aus diesem Projekt. Es gibt unzählige Kooperationen mit Schulen und Hochschulen weit über Castrop-Rauxel hinaus: Das Chancenwerk ist aktiv in zehn Bundesländern.

„Murat-Abi hat auch im Abi-Crashkurs nie etwas von uns oder unseren Eltern verlangt“, sagt Bünyamin Oskay. „Dafür weiß er bis heute: Wenn er mal ein Problem hat, dann kann er mich jederzeit anrufen. Dann bin ich für ihn da. Er ist ein Super-Typ. Sein Projekt hat jeden Preis verdient.“

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