Selbst nach Jahrzehnten im von Armut geplagten Babacal im Nordosten Brasiliens kam der Ruhrgebietsdialekt von Bischof Hermann Paschasius Rettler noch durch. „Nach jedem zweiten Satz sagt er ‚nä‘ und spricht von ‚Blagen‘ und dass der ‚Dings‘ in Schwerin Rektor war“, erzählte der Castrop-Rauxeler Journalist Winfried Kurrath (1939-2019) nach einem Besuch bei Rettler. 1970 und 1984 hatte sich Kurrath zu Besuchen bei Rettler aufgemacht. Seine Eindrücke goss er in einen Text, der in der Buchreihe „Kultur und Heimat“ erschien. Sie wird von der Arbeitsgruppe Castrop-Rauxel des Westfälischen Heimatbundes herausgegeben.
Rettler war gebürtiger Merklinder, im Alter von 20 Jahren zog er nach Brasilien. „Er hat sich früh für den Franziskanerorden entschieden“, sagt der Castrop-Rauxeler Journalist und heutige CDU-Politiker Michael Fritsch. Nachdem er dessen Ausbildung absolviert und dabei Portugiesisch gelernt hatte, zog Rettler in das brasilianische Missionarsgebiet.
Schon sein Vater sei ein Mann des Glaubens gewesen, der auch in Zeiten der Verfolgung nicht wankte, erklärte Rettler, als er 1988 zum Ehrenbürger des brasilianischen Bundesstaates Maranhão ernannt wurde. Rettlers Vater hatte laut Kurrath seine Stellung als Schulleiter verloren, weil er sich weigerte, die Doktrin der Nationalsozialisten anzunehmen. Seine Mutter habe verfolgte Juden im Haus der Familie versteckt, wo Rettler als eines von acht Geschwistern aufwuchs.
Von Leid geprägte Region
„Ich erlebe die Angst von Bauern, die vor den Brand- und Mordkommandos der Großgrundbesitzer zittern“, beschrieb Kurrath die Region, in der Rettler arbeitete. „Ich sehe die Elendsviertel, die wie Krebsgeschwüre an den Rändern der Städte wuchern. Ich stehe an den Gräbern von ermordeten Bauernführern, Ich sehe niedergebrannte Dörfer und spreche mit vertriebenen, jeglicher Lebensgrundlage beraubter Menschen. Ich sehe die sterbenden Säuglinge, weil für ihre ausgedörrten Körperchen die Pfennige kostenden Salzinfusionen fehlen. Ich begegne Mädchen, die sich verkaufen müssen, um mit dem schäbigen Hurenlohn zum Lebensunterhalt der Familien beizutragen. Ich sehe die Kinderarbeiter in den Steinbrüchen, die Vertriebenen, die auf Pfahlbauten aus Pappe, Plastikplanen, aus Brettern und Eternitplatten im Schlamm der Meeresarme von São Luís vegetieren.“ Das Klima habe ihn an ein Treibhaus erinnert.

Ein wahrlich ärmlicher Palast
„Ich will mit den Menschen leben und die Armut mit ihnen teilen“, sagte Rettler zu Kurrath. Ein vor seiner Zeit gekauftes Gelände für eine Kathedrale hatte er unter Armen aufgeteilt. „Was sollen wir hier mit einer Kathedrale?“, sagte er. „Er ist Pastor geblieben, Hirte“, erzählten 1970 seine wenigen Priester in Babacal. Rettler besaß laut Kurrath nie einen Bischofshut oder eine feierliche Amtstracht. „Sein Bischofskreuz ist aus einfachem Holz und kostete 50 Cent. Den Stab schuf ein Drechsler aus São Paolo. Die geschenkte Mitra hat bei Wassereinfall Glanz und Farbe eingebüßt und weist braune Flecken auf.“ An der Hand trug er laut Kurrath einen einfachen Ring aus Stahl, in den ein Castroper Zahntechniker Wappen und Palme gravierte. „Wie könnte ich in diesem Elend und bei diesen einfachen Menschen einen Kirchenfürsten spielen?“, fragte Rettler.
Auch Rettlers Wohnstätte war nicht prunkvoll. „Das fensterlose Haus liegt an einer ungepflasterten Sandstraße, die Kühen und Schweinen ebenso Weg ist wie den vielen Menschen, die mit dem Morgengrauen bis spät in die Nacht in dieses Haus kommen“, schrieb Kurrath. Nur in das Arbeits- und Schlafzimmer habe Rettler eine Decke eingezogen, aus den anderen Räumen blicke man auf die Dachziegel. „Es regnet ein. Schlangen und Vogelspinnen sind nicht selten Gast. Ein wahrlich ärmlicher Palast.“
Der beliebte Bischof
Kurrath erzählt von einer Fahrt mit dem Jeep durch Babacal. „Von überall her Grüßen und Winken. Der ‚einfache Bischof‘ ist beliebt.“ Sie begegneten Männern, die von Großgrundbesitzern von ihren Parzellen vertrieben wurden, die sie seit Jahren bewohnten und bewirtschafteten. Der Bischof soll vermitteln. Ohnehin sei Arbeit rar. „Nur zur Erntezeit bricht ein großer Treck nach Süden auf. Väter verlassen für Monate ihre Familien und kehren mit kargem Ersparten zurück. Wenn sie überhaupt zurückkehren.“ Außerdem kamen Brautleute, alte Leute, Arme und auch wenige Reiche zum Bischof. „Sein Haus ist immer und für jeden offen.“
Seine Hauptaufgabe, erklärte Rettler, sehe er in den Problemen des Volkes. „Sich vertraut zu machen, sich einsetzen für die Landarbeiter, gegen die Ungerechtigkeiten, damit ihnen zu Recht verholfen wird, und vor allen Dingen, dass mehr Friede und christlicher Geist in die Gemeinden kommt. Hauptarbeit dabei ist der Aufbau von Basisgemeinschaften in der ganzen Diözese.“ Dazu führen abenteuerliche Wege mit dem Jeep zu entlegenen Pfarreien.
Aufbau von Strukturen

14 Jahre später besuchte Kurrath den Bischof erneut in Babacal. In der Zwischenzeit waren einige asphaltierte Verbindungsstraßen gebaut worden. Es seien Basisgemeinden mit gut geschulten Mitarbeitern entstanden. „Gemeindezentren, Jugendpastoral, Familienseelsorge, caritative Dienste, Arbeiterseelsorge, Schulung für Gewerkschafter, der Aufbau eines funktionierenden Schul- und Gesundheitswesens, Rechtsberatung für die Bauern durch engagierte Rechtsanwälte, und zahllose kleine Projekte für besondere Gruppen. Immer mehr Brasilianer treten ins Noviziat der Franziskaner ein, lassen sich zu Priestern weihen. Brasilianische Frauen werden Nonnen.“ Das alles sei eindeutig Folge der kirchlichen Basis- und Bildungsarbeit, schrieb Kurrath.
Zahlreiche Mordopfer im Umfeld
Im kirchlichen Umfeld gebe es allerdings auch zahlreiche Mordopfer. Darunter Rechtsanwälte, Bauern- und Gewerkschaftsführer sowie Nonnen und Priester. Der inzwischen fast 70-jährige Rettler sei selbst Ziel von „Pressionen und Morddrohungen“. Allein im Februar 1988, als ein Dorf in der Nähe von Babacal zerstört wird, wird Rettler dreimal mit vorgehaltener Pistole bedroht. Kurz nach seiner Ernennung zum Ehrenbürger des Bundesstaats Maranão wird das Bildungshaus der Diözese niedergebrannt.
Mit 75 Jahren bat Rettler den Papst, ihn von seinem Bischofsamt zu entpflichten. Nach der Amtsübergabe an seinen Nachfolger ging er in den Süden, um in Pirapitingui, einem Lepradorf mit 900 Kranken in der Nähe der Millionenmetropole São Paulo als Seelsorger der Aussätzigen zu leben und zu arbeiten. „Wie sein Ordensgründer, der ‚die Liebe sah, bevor er auf die abscheulichen Wunden schaute‘, lebt der Bischof nun sein Leben unter den Ausgestoßenen“, schreibt Kurrath. Nach langer Krankheit starb Rettler 2004 im Alter von 89 Jahren in Sorocaba bei São Paulo.
Verbindung nach Castrop-Rauxel
Er habe Bischof Rettler als Menschen erlebt, vor dem er grenzenlose Achtung habe, schreibt Kurrath. „Als unerschrockener, mutiger, unbequemer, engagierter Bischof scheute er keine Auseinandersetzung bei seinem Kampf für die Rechte der Armen und Unterdrückten, obwohl ihn bei den Bedrohungen oft Todesangst überkam, wie er bekennt.“ Die Basis für dieses Leben sei in Castrop-Rauxel entstanden.
Ab den 1950er-Jahren, sagt Michael Fritsch, sei Rettler „ungefähr alle paar Jahre“ zu Besuch nach Deutschland gekommen. „Er blieb oft für längere Zeit in den Wintermonaten. Er hat die Kälte gemocht, die er in Brasilien nicht bekommen hat“, sagt Fritsch. In Castrop-Rauxel habe Rettler Vorträge gehalten und sei familiären und kirchlichen Verpflichtungen nachgekommen. In seinem Bischofswappen tauchte das Stadtwappen von Castrop-Rauxel auf. „Ich verdanke Castrop-Rauxel so viel. Und mein Wappen soll Herkunft und neue Aufgabe ausdrücken, Verbundenheit von meiner Heimat mit dieser Erde.“