Wir schauen in unserer Serie auf die größten und bedeutendsten Kriminalfälle der vergangenen Jahre in Castrop-Rauxel:
Die Wohnsiedlung Oberste Vöhde an der Pallasstraße – bis heute hat die Gegend einen zweifelhaften Ruf. Hier hat sich einer der grausamsten Morde in der Geschichte der Stadt Castrop-Rauxel abgespielt. Der 5. September 2008, ein Freitag. Aus einer Wohnung im Erdgeschoss an der Obersten Vöhde dringt am Nachmittag Geschrei. Eine Anwohnerin berichtet später: „Ich hörte nur Schreie und bin sofort nach oben gerannt. Dort habe ich das Unheil dann gesehen.“
Auf dem Boden der Wohnung liegt eine junge Frau, sie ist blutüberströmt. Andere Anwohner sind schon vor Ort und versuchen sie wiederzubeleben, aber es ist zu spät, noch in der Wohnung verblutet sie. Die 24-jährige Frau ist tot – ermordet. Der Mörder ist ihr eigener Mann, ein 25-Jähriger. Nach der Tat ruft er selbst den Rettungswagen und wird nicht weit vom Tatort festgenommen. Ein Mädchen erzählt unserem Reporter damals: „Er kam mir mit dem Messer in der Hand auf der Außentreppe entgegengelaufen.“
Mutter in Lebensgefahr
Für die 24-Jährige können die Rettungskräfte nichts mehr tun. Aber auch die Mutter der Ermordeten wird schwer verletzt, als sie versucht, ihrer Tochter zu helfen. Sie hat einen Stich mit dem Messer in die Seite bekommen und schwebt in Lebensgefahr. Ein Rettungshubschrauber landet vor dem Haus, die Frau wird notoperiert und überlebt. Die Schwester (23) der Toten sieht alles mit an und steht unter Schock.

Im März 2009 beginnt der Prozess gegen den Ehemann der Toten vor dem Landgericht in Dortmund. Ihm wird Mord, versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Wie ein gefährlicher Mann sieht er aber nicht aus. Unser Gerichtsreporter Jörn Hartwich schreibt zu Prozessbeginn: „Ein schmächtiger Mann, fast noch ein Junge. Kaum vorstellbar, was er getan haben soll.“ Aber der 25-Jährige sitzt nicht zum ersten Mal vor Gericht, er wurde schon für einen Raubüberfall auf eine Castroper Spielhalle zu mehreren Jahren Haft verurteilt.
Prozess wird abgeblasen
Doch bevor der Prozess richtig losgeht, ist er auch schon wieder vorbei. Die Verteidiger des Angeklagten wollen, dass noch weiter ermittelt wird. Sie werfen der Familie des Opfers vor, in jede Menge Straftaten verwickelt zu sein. Alles verzögert sich, erst zwei Monate später geht es dann richtig los.

Aber was ist an diesem Freitag in der Wohnung in der Obersten Vöhde passiert? Vor Gericht ergibt sich nach etlichen Verhandlungstagen und Zeugenaussagen langsam ein Bild. Die 24-Jährige wollte sich von ihrem Mann trennen, er soll gewalttätig gewesen sein. Ihre Schwester erzählt, sie habe sich neu in jemand anderen verliebt, ihre Mutter bestreitet das allerdings. „Zu Beginn war meine Nichte schwer verliebt in diesen Jungen“, erinnerte sich der Onkel. Mit der Zeit jedoch habe sich das Blatt gewendet. „Nach und nach habe ich gemerkt, dass er eigentlich nur wegen der Aufenthaltspapiere mit meiner Nichte zusammen war.“ Der Ehemann stammte aus Tunesien.
Eine letzte Aussprache
Am Tattag treffen sich die beiden in der Wohnung der Eltern der 24-Jährigen für eine letzte Aussprache. Sie wohnen auch in der Obersten Vöhde, die gemeinsame Wohnung liegt nur ein Stück entfernt. Der Täter hat Marihuana oder Haschisch intus, aber nicht genug, um völlig vernebelt zu sein. Die beiden diskutieren und streiten lange. Zweimal verlässt der 25-Jährige wütend die Wohnung und geht nach draußen, um wieder runterzukommen. Im Flur kommt es dann zu der Attacke, der 25-Jährige zieht plötzlich ein Küchenmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge und sticht auf seine Frau ein. Sechsmal wird sie getroffen, in Brust und Rücken. Der Ehemann zielt auch auf die Mutter und die Schwester seiner Frau, sie waren für die Trennung. Die Mutter wird schwer verletzt.

Den Notruf setzt der 25-Jährige noch selbst ab, dann läuft er zu der gemeinsamen Wohnung zurück. Bei der Polizei schrillen alle Alarmglocken. „Ein Mensch tot, einer schwer verletzt“, ist der Einsatzbefehl über Funk, wie ein Polizist im Prozess erinnert. „Es war sehr hektisch vor Ort“, erzählt er. Es hieß zwar, der Täter wolle sich stellen, aber man könnte sich darauf nie verlassen. Die Polizeibeamten sind zu dritt und postieren sich direkt vor der Haustür. „Ich war vorne.“ Die Anspannung ist hoch. Die Polizisten haben die Waffen gezückten, warten. Als sich die Haustür schließlich öffnet, folgen die Kommandos im Staccato: „Hände hoch! An die Wand!“ Der 25-Jährige wehrt sich nicht.
Könne sich an nichts erinnern
Vor Gericht sagt er selbst nichts zu den Vorwürfen. Über seinen Anwalt Knut Meyer-Soltau lässt er am ersten Tag eine mehrseitige Erklärung verlesen. Die Kernaussage: An die Tat hat der 25-Jährige keine Erinnerung. In der Stellungnahme heißt es: „Was an dem Tattag geschehen ist, ist dem Angeklagten absolut unerklärlich.“ An die Tat, das Messer an all das will er sich nicht mehr erinnern können. „Wenn er in der Haftzelle zum Schlafen geht, wacht er öfter auf und sieht immer nur Blut, sehr viel Blut.“ Er habe nicht geplant, seine Frau umzubringen, er leide darunter, dass er einen Menschen getötet hat. An einen Streit will er sich aber noch erinnern, die Familie seiner Frau haben ihm Vorwürfe gemacht, ihn beleidigt.

Die Mutter der Toten sagt später selbst vor Gericht aus. „Es war schlimm“, erzählt sie. „Überall war Blut.“ Als die 45-Jährige über ihre Tochter spricht, kommen ihr die Tränen: „Sie war ein ganz liebes Mädchen“, sagte die Mutter. „Es ist schlimm, sein Kind zu verlieren. Ich habe sie über alles geliebt, und ich denke immer noch jede Sekunde an sie.“ Nach der Tat ist sie lust- und antriebslos, habe fast ihren Lebenswillen verloren, am Ende nimmt sie professionelle Hilfe in Anspruch.
„Du hast aus mir einen Mörder gemacht.“
Kurz nach der Tat im Oktober 2008 schreibt der 25-Jährige aus der Haft heraus einen Brief an die Mutter der Toten. Der Brief – ursprünglich auf Arabisch verfasst – wird abgefangen und später verlesen. In blumiger Sprache heißt es darin wörtlich: „Die Liebe ist leicht, aber der Abschied ist schwer. Ich habe mich für die Beendigung meines Lebens entschieden, und ich weiß, was ich sage. Ich bin der betrübte Liebende, aber ohne die Liebe zu deiner Tochter bin ich müde geworden. Du hast aus mir einen Mörder gemacht. Verzeihe mir für alles, was ich getan habe.“

Staatsanwältin Carola Jakobs stößt dieser Satz ziemlich sauer auf. In ihrem Plädoyer fragt sie: „Hat die Tat nicht gereicht? Musste er auch noch schreiben: Du hast aus mir einen Mörder gemacht?“ Sie fordert lebenslängliche Haft, der 25-Jährige habe heimtückisch auf seine Frau eingestochen: „Der Angeklagte hat eine Tragödie ausgelöst und unendliches Leid über die Familie gebracht, die sich nach wie vor in einer Trauma-Therapie befindet.“
Der Verteidiger des 25-Jährigen – Knuth Meyer-Soltau – hält dagegen. Die Tat sei nicht als Mord, sondern als Totschlag zu werten. Adel J. habe nach dem Konsum von zwei Marihuana-Joints während der Fastenzeit eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung erlitten und deshalb im Affekt gehandelt.
Lebenslänglich für Mord
Teilnahmslos sei er im Prozess gewesen, schreibt unser Gerichtsreporter immer wieder. Am letzten Verhandlungstag zeichnet er gedankenverloren die Linien in seiner Handinnenfläche nach. Kurz vor dem Urteil spricht der 25-Jährige dann zum ersten Mal. Reglos, er sah nicht auf: „Ich möchte mich bei der Familie entschuldigen.“ Als das Urteil verkündet wird, zeigt er keine Reaktion. 15 Jahre, also lebenslänglich wegen Mordes und Mordversuches, keine Chance, früher entlassen zu werden.
Richter Wolfgang Meyer spricht in der Urteilsbegründung von „Rache und Vergeltung“. Die Mutter und die Schwestern der Getöteten reagieren sichtlich zufrieden auf das Urteil, am Ende haben sie ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Der Verteidiger des 25-Jährigen geht noch mal in Revision, aber das Urteil bleibt.
Der Mörder sitzt noch heute in Haft, wie Staatsanwalt Henner Kruse uns bestätigt. Die Strafvollstreckungskammer entscheidet, wie lange jemand in Haft sitzt, der lebenslang bekommen hat. Im Fall des 25-Jährigen sind das 20 Jahre, er kommt also frühstens am 4. September 2028 frei. Er wäre dann 45 Jahre alt. Allerdings könnte der Mann auch vorher nach Tunesien abgeschoben werden. Im September 2026 prüft die Staatsanwaltschaft, ob das möglich ist. Bis dahin sitzt er in einem Gefängnis, irgendwo in Deutschland.
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