Der 11. März 1806 in Sandymout, einem Vorort von Dublin in Irland. 940 Kilometer von Castrop-Rauxel entfernt wird William Thomas Mulvany geboren. Sein Eintreffen in Castrop-Rauxel wird die Stadt revolutionieren – doch bis dahin wird sein Leben noch viele Wendungen nehmen.
William Thomas Mulvany ist das Älteste von sieben Kindern. Sein Vater Thomas James Mulvany ist Maler, sogar ziemlich bekannt und angesehen. Bis heute kann man sich im Internet seine Gemälde von der zähen irischen Landschaft anschauen, von Bauern im Feld und Fischern bei der Arbeit. Als Kind ist Mulvany Katholik, wechselt dann aber die Konfession und wird Protestant. Er will nämlich studieren, Arzt werden und das dürfen am Trinity College in Dublin nur Protestanten. Er wird aufgenommen und studiert Medizin.
Nach wenigen Monaten muss er sein Studium abbrechen. Sein Vater ist zwar ein angesehener Maler, doch als Künstler hat er immer wieder zu wenig Geld. Er kann seinen Sohn nicht mehr unterstützen. Mulvany verlässt das College und muss sich etwas Anderes für sein Leben überlegen – das Neuerfinden wird der rote Faden seiner Geschichte.
Karriere im Staatsdienst
Mulvany beginnt eine Lehre als Landvermesser. 1825 bekommt er seine erste Anstellung beim irischen Staat. Er vermisst Straßen, hält Grenzen fest und fährt viel durch die irische Provinz, die Landschaften, die schon sein Vater malte. Im Mai 1832 heiratet er mit 29 Jahren Alicia Winslow. Sie wird sein gesamtes Leben an seiner Seite bleiben. Kurz darauf wird er befördert. Ab 1834 ist er zuständig für die Binnenschifffahrt und die Frage der Be- und Entwässerung. Er hat sein Büro in der Stadt Limerick, direkt am Shannon, dem längsten Fluss Irlands. Ihm wird ein gewisser Hang zum Perfektionismus nachgesagt. Das hilft ihm zwar auch, aber immer wieder wird er mit Geldgebern und Vorgesetzten aneinander geraten.

Er plant den Bau eines Kanals zwischen dem Shannon und dem Fluss Erne. Er steigt weiter auf und wird schließlich zum Kommissar für öffentliche Arbeiten in Irland. Er setzt sich für den Ausbau der Eisenbahn ein, bringt Verbesserungen bei Straßen und Kanälen auf den Weg. Sechs Jahre bleibt er in dieser Top-Position beim irischen Staat – dann kommt die große Hungernot. 1847 und 1848 gibt es Missernten bei den Kartoffeln, die Ernte verfault. Fast zwei Millionen Menschen, zwölf Prozent der gesamten Bevölkerung, sterben. Etliche wandern aus, es ist eine Zäsur in der Geschichte des Landes, bis heute leidet Irland unter den Nachwirkungen.
Mulvany wird mit den Notstandsarbeiten beauftragt, wieder soll er Straßen und Schienen bauen und so die schwache Wirtschaft ankurbeln. Olaf Schmidt-Rutsch, Historiker des LWL erklärt: „In diesen Jahren wurden viele Projekte angestoßen. Mulvany war hier maßgeblich beteiligt und hat in London die Gesetzgebung mit beeinflusst. Doch was er vergessen hat, war, dass die Leute, die etwas zu sagen hatten, die Grundeigentümer des Lands waren.“ Kurz darauf ereilt ihn außerdem ein familiärer Schicksalsschlag. Seine älteste Tochter Georgina Mulvany stirbt mit 16 Jahren.
Besuch in Preußen
Er wird in den Ruhestand versetzt, da ist er gerade 48 Jahre alt. Seine Geschichte könnte hier enden, doch Mulvany fühlt sich zu jung für ein Dasein als Rentner. Er geht nach London und trifft Michael Corr van der Maeren. Ein Ire, der nach Brüssel ausgewandert war, ein erfolgreicher Geschäftsmann, dem unter anderem eine kleine westfälische Kohlemine gehört.

Beim Bergbau gibt es ständig Probleme mit Wasser und Entwässerung – Mulvanys Spezialgebiet. Van der Maeren erkennt das Potenzial und bittet Mulvany, mit ihm nach Preußen zu fahren. Das Ruhrgebiet, heute eine riesige Metropolregion, ist damals geprägt von Landwirtschaft. Doch Mulvany sieht seine große Chance in der Kohle. Nach seinem Besuch im Dorf Gelsenkirchen schreibt er: „Ich hatte nach meinem kurzen Besuch auf dem Oberbergamt die geognostische Karte nachgesehen und auf der Stelle erkannt, welche wunderbaren ausgedehnten Reichtümer unter der Erde waren.“ Er ärgert sich geradezu über die schlechte Infrastruktur, keine Kanäle, nur wenig Schienen: „Diese Leute schätzen nicht, was sie hier haben.“
Eröffnung am St.-Patricks-Day
Er sucht sich noch einige Geldgeber und kam dann mit englischen Arbeitern ins Ruhrgebiet. Am 17. März 1856, dem St.-Patrick’s-Day setzt Mulvany den Spatenstich zu seiner ersten Zeche in der Nähe von Gelsenkirchen. Er nennt sie „Hibernia“, lateinisch „Irland“. Seiner Heimat wird Mulvany immer tief verbunden bleiben, auch wenn er von nun an in Düsseldorf lebt. 1860 eröffnet er die Zeche „Shamrock“ – das dreiblättrige Kleeblatt und inoffizielle Nationalsymbol Irlands – bei Herne, die Fördermenge ist so hoch wie nirgendwo sonst.

Er kauft im selben Jahr Grubenfelder bei Castrop und nennt sie erstmal „Eblana“ – der lateinische Name für Dublin. 1860 ist Castrop-Rauxel ein unbedeutendes Ackerstädtchen. Rund 4000 Menschen leben in dem Dorf. Wirtschaftlich steht es nicht gut um die Bewohner der heutigen Europastadt. Die kleinen und mittleren Grundbesitzer sind verschuldet. Mulvany beginnt mit den Arbeiten an der neuen Zeche, die den Namen „Erin“ trägt. Natürlich auch wieder mit Heimatbezug. „Erin“ ist der keltische Ausdruck für Irland. Das Wort prangt bis heute in großen Lettern am Förderturm ist Castrop, für viele eingefleischte Castrop-Rauxeler der Inbegriff von Heimat. Auch wenn der Turm, wie wir ihn heute kennen, nicht von Mulvany gebaut wurde.
Pechsträhne mit Erin
Erin fördert 1867 zum ersten Mal die begehrte Fettkohle in 207 Metern Tiefe. Castrop erlebt einen Aufschwung. Im Jahr 1871 wohnen 5450 Menschen im Dorf. 1885 sind es bereits 9900 Einwohner. Obwohl die Zeche für Castrop Aufschwung bringt, ist sie für Mulvany ein ziemliches Desaster. Bei Schlagwetterexplosionen im Oktober 1871 und Februar 1873 sterben insgesamt zwölf Kumpel. Ein Brand legt die Zeche 1874 für knapp einen Monat lahm. Und das Wasser wird zum Problem, zwischen 1872 und 1876 säuft die Zeche fünfmal ab. Mulvany muss irgendwann aufgeben, er bekommt das Wasser nicht in den Griff. Seine Gesellschaft meldet 1877 Konkurs an. Erin schließt und rund 800 Arbeiter verlieren ihre Jobs. 1883 kauft der Industrielle Friedrich Grillo die Zeche und es geht wieder bergauf, doch das ist eine andere Geschichte.

Beruflich war Castrop kein Erfolg für Mulvany, doch privat hat das Dorf es ihm angetan. Seinen Hauptwohnsitz hat er in Düsseldorf, doch 1872 kauft er das Haus Goldschmieding und lebt in den Sommermonaten hier. Einige vermuten, die sanften Hügel der Umgebung haben ihn vielleicht an die Provinzen seiner irischen Heimat erinnert. Auch heute finden sich hier noch die Spuren der Familie. In der Eichenholztür findet man ein ganz deutliches Statement: auf einer Seite das westfälische Pferd und auf der anderen Seite die irische Harfe.
Sommer im Haus Goldschmieding
Mulvany, der zeit seines Lebens nie wirklich Deutsch gelernt hat, erzog seine Kinder britisch – und die gaben es weiter. Seine Tochter Alicia schrieb Gedichte und führte Tagebuch. Daher wissen wir, dass sie sich mit Kindern aus Castrop traf. Sie unterrichtete sie im Englischen, die Mädchen im Häkeln, sie sang geistliche Lieder mit ihnen.
Die englische Lebensart war damals populär, genau wie die Hobbys der Briten. Neben der Zechengeschichte gibt es eine zweite Castrop-Rauxeler Tradition, die auf Mulvany zurückgeht: das Pferderennen. Das erste Rennen findet 1875 statt, damals noch rund um das Haus Goldschmieding durch die Wälder. Ganz nach englischem Vorbild ist die Bahn drei englische Meilen lang (4800 Meter).

Nach dem Konkurs seiner Firma bleibt Mulvany in Düsseldorf. Er ist trotz allem ein angesehener Mann. Er wurde schon 1871 zum ersten Vorsitzenden des „Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen“. Für seinem Lobbyverband ist Mulvany umtriebig und schreibt mehr als 40 Schriften. Der Ire äußert seine Meinung zu allen möglichen wirtschaftlichen und politischen Themen. Wie wichtig Kanäle sind, wusste Mulvany aus seiner Zeit in Irland und so forderte er schon 1871: „Den Emscherkanal in großem Maßstabe, und zwar so, dass er alle Schiffe, welche den Rhein befahren zu tragen vermag, vom Rhein bis Dortmund als eine wirkliche Verlängerung der Rheinschifffahrt ohne Zeitverlust zu bauen.“ Er war seiner Zeit voraus, erst 42 Jahre später wurde der Rhein-Herne-Kanal eröffnet.
„Überall der mutige Pionier“
1880 am St.-Patricks-Day und 20 Jahre nach Eröffnung seiner ersten Zeche wurde William Thomas Mulvany mit einem Festakt in Gelsenkirchen geehrt. Einer seiner engsten Freunde und Wegbegleiter sagte damals: „Sie waren in vielen Fragen ein belehrender Meister und überall der mutige Pionier.“ Am 30. Oktober 1885 stirbt William Thomas Mulvany hochdekoriert in Düsseldorf, wo er auch beigesetzt wurde, sein Grab existiert noch heute.

Castrop-Rauxel hat er geprägt und vom Ackerstädtchen zur Kohlestadt gemacht. Ohne den Bergbau wäre die Geschichte von Castrop-Rauxel undenkbar gewesen, Erin war der Anfang. Auch die Pferderennen gab es noch lange, bis 1970. Heute ist die Rennbahn ein beliebter Park und der Reiterbrunnen erinnert an die Tradition des Pferdesports. Zwei Straßen wurden nach ihm benannt, die Mulvanystraße in Castrop und die Thomasstraße in der Altstadt. Am Anfang der Thomasstraße steht sogar ein kleiner, privat finanzierter Gedenkstein. Fast 140 Jahre nach seinem Tod ist klar – kein Mann war für die Stadt so wichtig wie der Ire William Thomas Mulvany.
Hinweis der Redaktion: Der Artikel erschien erstmals am 6. August 2024. Nun haben wir ihn neu veröffentlicht.