Vanessa H.* sitzt im Wohnzimmer und denkt an ihren Ex-Freund, den Vater ihres Sohnes. Sie hat Angst vor ihm. „Er weiß noch nicht, wo ich jetzt genau wohne“, sagt die Castrop-Rauxelerin. Mit ihren beiden Söhnen ist sie umgezogen, um ihn loszuwerden. Einen Monat hatte sie Ruhe. Das Thema sei erledigt, hoffte sie. Dann wurde die Windschutzscheibe ihres Autos eingeschlagen und der Lack zerkratzt. Der Psycho-Terror nimmt kein Ende.
Im Sommer 2024, nach der Trennung, ließ sie ihren Ex-Freund von der Polizei aus ihrer Wohnung verweisen, in der sie ihn bis dahin geduldet hatte. Seine betrunkenen Ausraster seien für sie nicht mehr zu ertragen gewesen. Er habe sie immer wieder beleidigt, Türen zugeknallt oder sei ihr hinterhergelaufen. Oft habe er heimlich getrunken und sich mehrmals in der Wohnung und im Keller übergeben.
Schon vor dem endgültigen Wohnungs-Verweis im Sommer habe sie die erste Anzeige wegen Beleidigung gestellt und dreimal die Polizei gerufen. Dann sollten sie laut den Polizisten in getrennte Räume gehen und sich beruhigen, sagt Vanessa H. Doch als die Beamten weg gewesen seien, habe sich ihr Ex schon nicht mehr daran gehalten. „Das war dein größter Fehler“, soll er laut der Castrop-Rauxelerin bei seinem Wohnungs-Verweis in Anwesenheit der Polizisten gesagt und sich körperlich gewehrt haben. „Ich mache dein Leben zur Hölle. Dreh dich immer zweimal um. Egal, wo du bist.“ Aus ihrem Ex-Freund wurde ihr Stalker.
Das Messer in der Wohnungstür

Kurz darauf begann eine Serie von Straftaten gegen Vanessa H. Mehrmals wurden ihr Raum im Keller des Mehrfamilienhauses und ihr Briefkasten aufgebrochen. Die Castrop-Rauxelerin hat entsprechende Fotos auf ihrem Handy. Vor jeder Fahrt solle sie ihr Auto überprüfen, habe ihr Stalker sie einmal per Chat gewarnt. Für den Fall, dass sie defekt seien.
Im Herbst habe er eines Tages geschrieben, eine Überraschung warte zu Hause auf sie. Als sie dort ankam, steckte nach ihren Angaben ein Messer von außen in der Wohnungstür. Sie habe die Polizei gerufen. Auch um sicherzugehen, dass sich der Mann nicht in einem der Räume des verwinkelten Kellers versteckt. Er habe ihr weitere Morddrohungen geschickt, bevor sie seine Nummer blockierte.
Zwischen dem Messer in der Tür und der eingeschlagenen Windschutzscheibe liegen ein Umzug und mehrere Monate voller Angst. Seit der Trennung habe sie ein Dutzend Anzeigen gegen ihren Ex-Partner gestellt.
Nach dem Umzug habe sie sich in Castrop-Rauxel zunächst besser gefühlt. Sie habe ihren neuen Wohnort geheim gehalten, die Tür zusätzlich gesichert. Mit dem Schlag in die Windschutzscheibe ihres Autos sei das Sicherheitsgefühl geschwunden. „Ich kann abends nicht mehr mit den Hunden raus. Wenn sie spätabends bellen, stehe ich senkrecht im Bett. Ich habe Angst, mit dem Auto hier entlangzufahren. Ich kann mich nicht mehr frei bewegen, zum Beispiel mit den Kindern durch die Stadt gehen. Wenn mein Partner oder meine Eltern dabei sind, ist es besser, aber ich schaue mich immer noch um.“
Im Alltag werde sie besonders von ihrem heutigen Partner und ihrer Mutter unterstützt. Doch sie sei verunsichert. Mehrmals habe ihr Stalker gegen das Verbot verstoßen, das ihn davon abhalten sollte, sich ihrer Wohnung bis auf 25 Meter zu nähern oder Kontakt zu ihr aufzunehmen. Beispiele seien das Messer in ihrer Tür sowie der Angriff auf ihr Auto und Nachrichten, die er trotz des Verbots an sie gesendet habe. Bisherige Sanktionen schreckten ihn offenbar nicht ab. „Wofür habe ich dann eine einstweilige Verfügung?“, fragt sie sich. „Es hat doch eine Richterin festgestellt, dass er sich mir nicht nähern darf.“ Vielleicht, überlegt sie, werde die Staatsanwaltschaft erst durchgreifen, „wenn ich irgendwo im Graben liege“.
„Krankhaft verliebt“
„Er war nicht immer so, wie jetzt. Ich habe ihn ja mal geliebt“, sagt die Castrop-Rauxelerin und blickt hinunter in ihre Kaffeetasse. Dreieinhalb Jahre war sie insgesamt mit ihm zusammen, mit einer Unterbrechung. Dass er schon zweimal im Gefängnis gewesen sei – insgesamt für ein knappes Jahr – habe sie erst später erfahren. Einmal habe er Geldstrafen nicht bezahlt. Den Grund für die andere Haftstrafe kenne sie nicht. „Ich denke, dass er krankhaft in mich verliebt war. Vielleicht wollte er nur ein Kind mit mir, um mich behalten zu können.“ Ihr gemeinsamer Sohn spiele in den Nachrichten kaum eine Rolle. Es gehe immer um sie.
Schon die erste vorübergehende Trennung habe er nicht verkraftet. Vor Eifersucht habe er eine Veranstaltung verlassen, die sie beide besucht hatten. Dann habe er sich volllaufen lassen. Später am Tag habe er „blutüberströmt“ vor ihrer Haustür gesessen. „Er war wohl von einer Brücke gefallen oder gesprungen.“ Dass sie danach noch einmal mit ihm zusammenkam, erklärt sie sich durch ihr eigenes Mitleid.
Hang zu Waffen
Auch der jetzige Partner von Vanessa H. wird von ihrem Ex-Freund bedroht. Er kenne sein Gesicht und seine Augen, sagte er in Sprachnachrichten. Und er könne Waffen bauen. Ohne Vorwarnung könne irgendwann ein Messer im Körper des neuen Freundes stecken. Ein klares Zeichen wurde an der Arbeitsstelle ihres jetzigen Freundes hinterlassen, sagt Vanessa H.
Viele weitere Anzeigen würden gegen ihren Ex laufen, sagt die Castrop-Rauxelerin. „Er hält die ganze Polizei in Castrop auf Trab.“ Zum Beispiel sei er bei seinem ehemaligen Arbeitgeber eingebrochen und habe ihn bedroht. Wegen Diebstahls habe er Hausverbot in mehreren Supermärkten. Und er habe einen Hang zu Waffen. Das Messer in ihrer Tür sei nur ein Beispiel. Als er vor längerer Zeit einmal gegen das Waffengesetz verstoßen habe, habe sie die Strafe für ihn bezahlt. Sie sei hochschwanger gewesen und habe auf seine Unterstützung gehofft.
Staatsanwaltschaft ermittelt
Das Polizeipräsidium Recklinghausen dürfe in diesem Zusammenhang keine Angaben zu personenbezogenen Daten machen, erklärt eine Sprecherin auf Anfrage unserer Redaktion. Wie Ines Liedtke, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Dortmund, bestätigt, wird gegen den besagten Mann unter zwei Aktenzeichen ermittelt. Die Verfahren hätten „Bedrohung, Beleidigung, Sachbeschädigung“ und Verstoß gegen eine einstweilige Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz zum Gegenstand.
Die Ermittlungen zu den Taten, die allesamt im vergangenen Jahr stattgefunden hätten, dauerten an. Ein Verfahren wegen des demolierten Autos sei noch nicht bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. Zur Frage, ob der Mann bereits Haftstrafen abgesessen habe, dürfe sie keine Angaben machen, sagt Liedtke, wiederum mit dem Verweis auf den Schutz personenbezogener Daten.
Für Vanessa H. ist die lange Ermittlungsdauer bei Polizei und Staatsanwaltschaft ein riesiges Ärgernis. Sie fragt sich, warum es nicht schneller gehen kann. Die Taten lägen zum Teil schon viele Monate zurück. Offensichtlich schrecke ihr Ex nicht davor zurück, weitere Straftaten zu begehen.
Annäherungsverbot: zunächst nur Tinte auf Papier
„Das scheint über das gewöhnliche Maß von Stalking hinauszugehen“, sagt Antje Brandes, als sie von dem Fall von Vanessa H. hört. Die Fachanwältin für Strafrecht ist spezialisiert auf Opferschutzverfahren und hat schon in tausenden Fällen Opfer von häuslicher Gewalt oder Stalking vertreten.
„Jedes rechtliche Mittel – auch ein Annäherungsverbot – ist zunächst einmal nur Tinte auf Papier“, sagt Brandes. „Das bedeutet, dass es nicht auch zwingend praktischen Schutz bietet, wenn ein Täter es nicht akzeptiert. Manche Täter sind mit Papier nicht zum Stillstand zu bringen.“ Trotzdem führten Verstöße gegen Kontaktverbote selten zu Haftstrafen. Um wegen Stalkings verhaftet zu werden, müssten schon viele Verstöße und verhängte Strafen zusammenkommen.

Was ist Stalking?
„Stalking ist nicht Liebe. Stalking ist Macht“, sagt Antje Brandes. Der Begriff ist von dem englischen Verb „to stalk“ abgeleitet und bedeutet laut einer Definition der Polizei NRW „anschleichen“ oder das „Einkreisen von Beute“. Den typischen Stalker gebe es nicht, erklärt die Polizei. „Die Täter kommen aus allen Schichten und Altersgruppen.“
Mittlerweile werde unter Stalking das „beharrliche Verfolgen, penetrantes Belästigen und Nachstellen einer Person gegen deren Willen, sodass sie in ihrer Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt wird“ verstanden. Der Täter stelle dem Opfer nach, beobachte und terrorisiere es. Hintergrund sei oftmals eine gescheiterte Beziehung, deren Aufrechterhaltung auf diese Weise erstrebt werden soll, oder der Versuch einer Kontakt- oder Beziehungsaufnahme.
Die Verhaltensweisen von Stalkern könnten von unerwünschten Telefonanrufen und schriftlichen Mitteilungen über Verfolgung, Beobachtung und Überwachung bis hin zu Drohungen, Sachbeschädigungen und „psychischen sowie physischen Gewalthandlungen“ gehen. Circa 80 Prozent der Opfer seien Frauen. Nur etwa in jedem fünften Fall sei der Stalker eine gänzlich fremde Person.
Was umgangssprachlich zumeist „Stalking“ genannt wird, heißt im Strafgesetzbuch „Nachstellung“. Im Gesetzestext werden zahlreiche Beispiele genannt, in welchen Fällen der Straftatbestand gegeben wäre. Täter können demnach mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe sanktioniert werden. In besonders schweren Fällen werde die Nachstellung mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft. Ein schwerer Fall wäre unter anderem gegeben, wenn der Täter „dem Opfer durch eine Vielzahl von Tathandlungen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten nachstellt“.
Laut polizeilicher Kriminalitätsstatistik hat es im Jahr 2024 in Castrop-Rauxel 31 angezeigte Fälle von Stalking gegeben. Die Aufklärungsquote beträgt demnach 87,1 Prozent. Das bedeutet, dass in 27 der Fälle ein Tatverdächtiger ermittelt wurde. Theoretisch könnte auch mehrmals derselbe Täter angezeigt worden sein. In der Statistik wird nicht berücksichtigt, ob der Verdächtige am Ende auch verurteilt wurde.
Was können Betroffene tun?
Zurück ins Wohnzimmer von Vanessa H.. Als Reaktion auf den Psycho-Terror sind sie und ihre Söhne bereits umgezogen. Sie könne aber nicht sicher sein, dass ihr Ex auf Dauer nicht ihren jetzigen Wohnort herausfinden könne, sagt sie. Von einem Mitarbeiter der Polizei sei ihr geraten worden: Wenn sie dringend eine schnelle Lösung brauche, sollte sie am besten die Stadt verlassen. „Aber was ist mit dem sozialen Umfeld, der Arbeit, Kita und Schule?“, fragt die Castrop-Rauxelerin. Sie sehe es nicht ein, all das aufzugeben, weil die Staatsanwaltschaft nicht schnell genug ermittle.
Rat finden Opfer von Stalking unter anderem auf der Internet-Plattform des Bundes für Betroffene von Straftaten – hilfe-info.de. „Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu wehren“, heißt es dort. Der erste Schritt sei, die Polizei einzuschalten. Es sollten zudem eine Liste aller unerwünschten Kontaktaufnahmen geführt und für jeden davon Beweise gesichert werden. Zeugen, die Kontaktversuche mitbekommen, sollen der Polizei genannt werden. Dem Täter sollte unmissverständlich klargemacht werden, dass Kontakt unerwünscht ist und gegebenenfalls die Polizei eingeschaltet wird.
„Lassen Sie Ihre Adresse und/oder Telefonnummer in öffentlichen Verzeichnissen löschen“, wird empfohlen. Außerdem sollte bei der Meldebehörde eine Auskunftssperre beantragt werden. Hilfe könne bei Polizei, Beratungsstellen, Opferschutzbeamten, Freunden und Familienangehörigen erfragt werden. Darüber hinaus könne ein Rechtsanwalt beratend hinzugezogen werden. Ein anwaltliches Schreiben an den Täter, in dem strafrechtliche Konsequenzen angekündigt werden, wirke bereits abschreckend.
„Wenn alle anderen Mittel nicht helfen, empfehle ich, sich einen Rechtsanwalt zur Hilfe zu holen, gerichtlich vorzugehen und gegebenenfalls auch mal die Presse einzuschalten, um mehr Augenmerk auf solche Fälle zu lenken“, sagt die Rechtsanwältin Antje Brandes. Angesichts teilweise langer Verfahrensdauern könne es Sinn ergeben, dem Täter, zum Beispiel durch einen Umzug, aus dem Weg zu gehen. Selbst wenn diese Entscheidung schwere Auswirkungen hätte und es keine hundertprozentige Sicherheit gebe, könne dies besser sein, „als über Jahre so eine Angst durchstehen zu müssen“.
*Der Name wurde geändert, um die Person zu schützen. Der echte Name ist der Redaktion aber bekannt.