Praktisch jeden Tag sind Justin Salhab und Rebekka Bandmann mit dem Rollstuhl in Ickern unterwegs. Sie leben in einer WG, die zur inklusiven Hausgemeinschaft der Lebenshilfe gehören. Neun Personen mit geistiger Behinderung wohnen in dem Haus in WGs, Paar- und Einzelwohnungen. Bei einem Spaziergang erzählen sie: In Castrop-Rauxels einwohnerstärkstem Stadtteil gibt es viele Barrieren – an vielen Stellen gibt es aber Verbesserungen.
Rollstuhl scheitert am Bordstein
Einer der häufigsten Wege von Justin Salhab und Rebekka Bandmann ist der zum Einkaufen. An der Kreuzung Emscherbruch / Friedhofstraße hält Bandmann an. „Hier ist mir neulich ein Rad abgefallen“, sagt sie. Der Bordstein an der Kreuzung ist nicht abgesenkt. Um die Straße mit dem Rollstuhl zu überqueren, muss sie zuerst geschätzte zehn Meter nach links fahren, wo der Bürgersteig niedriger ist. Selbst dort ist der Übergang vom Bordstein auf die Straße allerdings so holprig, dass die Räder sich verkeilen und Bandmann mit dem Rollstuhl feststeckt. „Keine Chance“, sagt sie.
Kurze Strecken schafft Bandmann mit dem Rollator, für längere Strecken braucht sie den Rollstuhl. Normalerweise sei sie mit Begleitung unterwegs – auch als das Rad abfiel. Zum Glück war in diesem Fall Christel Brandt dabei, die als Betreuerin beim ambulant betreuten Wohnen arbeitet. „Wir mussten dann tatsächlich meine Mutter anrufen, damit sie kommt und den Reifen wieder draufmacht. Alleine hätten wir das nicht geschafft“, sagt Bandmann.

„Das macht mich sauer“
Das Problem lösen die beiden Rollstuhlfahrer inzwischen meistens so, dass sie rund 15 Meter vor der Kreuzung über einen abgesenkten Bürgersteig auf die Straße fahren – diese müssen sie sich allerdings mit Autos und anderen Fahrzeugen teilen. Auch auf dem kurzen Weg von seiner Wohnung bis zu der genannten Kreuzung habe er oft Schwierigkeiten, erzählt Justin Salhab. Ursächlich dafür sind Autos, die zu weit auf dem Bürgersteig stehen, genauso wie Mülltonnen, die den Weg blockieren. „Das macht mich dann echt sauer“, sagt Salhab. Mehrmals musste er zuletzt Mülltonnen beiseite stoßen, um durchzukommen.

Frustrierende Erlebnisse
Obwohl es zahlreiche Beispiele gibt, bei denen die Teilhabe gut funktioniert, bleiben einzelne frustrierende Erlebnisse besonders im Kopf.
Salhab und ein Betreuer erzählen von einem solchen Einzelfall. Sie wollten mit dem Bus vom Sport nach Hause fahren. Der Bus hielt. „Ich habe darauf gewartet, dass er die Klappe runtermacht“, sagt der Betreuer. „Aber der Fahrer kam nicht raus.“ Er habe auf Nachfrage behauptet, hinten sei kein Platz. Dabei hätte man laut dem Betreuer noch einfach „puzzeln“ können, um Platz zu schaffen. „Ich habe gemerkt: Okay, der nimmt uns eh nicht mit.“ Der Fahrer schloss die Tür und fuhr weg. Dem Betreuer blieb nur, die Buslinie und Uhrzeit zu notieren und sich beim Unternehmen zu beschweren. Salhab hat Anspruch auf Taxigutscheine, finanziert durch den Kreis Recklinghausen. Diese nutzt er regelmäßig. „Aber mein Taxiunternehmen fährt nur bis 22.30 Uhr. Da will man ja am Wochenende noch nicht unbedingt nach Hause.“
Zu wenige Rampen
„Ich bin ja noch ein junger Hüpfer“, sagt Salhab. „Wenn ich manchmal in die Kneipe gehen möchte, muss ich eigentlich nur einmal über die Straße. Sie ist direkt gegenüber. Die haben aber leider keine Rampe.“ Er habe den Besitzer gefragt, ob er eine Rampe anschaffen könnte. „Der hat gesagt, das macht er nicht. Und dann habe ich nur gesagt, dass sie einen guten Kunden verloren haben.“ Auch in den Ein-Euro-Laden in Ickern komme er ohne Hilfe nicht rein. „Weil sie die Rampe nicht nach draußen legen können, weil sich die Fußgänger dann beschweren.“ Es gebe immer noch zu wenige Rampen, findet auch Rebekka Bandmann. „Es sind einige Geschäfte, in die Rollis sehr schwierig reinkommen.“ Einige Ladenlokale hätten aber nach Anfrage der Lebenshilfe Rampen angeschafft. In der Altstadt sei es mit den Rampen „relativ okay“, sagt Bandmann. „Aber auch da gibt es viele Schlaglöcher.“ Meistens halte man sich an bekannte Wege, um sicherzugehen, dass alles klappt.
Lange Suche nach Sportverein
Zuletzt suchte die Lebenshilfe in Ickern lange nach einem Sportverein für die Klienten. „Es ist schwierig, überhaupt Freizeit inklusiv zu gestalten“, sagt Katharina Flick, Regionalleiterin der Lebenshilfe für den Standort Castrop-Rauxel. . Die Suche nach einem Sportverein für Reha-Sport sei schwierig gewesen. „Viele Vereine hatten erstmal eine Hemmschwelle. Obwohl wir angeboten haben, immer mit Assistenz zu kommen. Bei einem Verein war es so, dass ich eine Klientin beschrieben habe, die Reha-Sport braucht. Ich habe beschrieben, dass sie nicht sprechen kann und eine körperliche Beeinträchtigung habe.“ Daraufhin sei sie abgelehnt worden. Die Leiterin eines anderen Reha-Sportstudios habe zum Glück direkt gesagt: „Wir versuchen das.“ Mittlerweile seien in der Gruppe auch Teilnehmer dabei, die keine Behinderung haben. „Das ist ja letztlich unser Ziel, dass es inklusiv wird.“
„Wir würden uns sehr wünschen, dass möglichst alle Barrieren abgebaut werden“, sagt Flick. „Gerade damit man hier im Rollstuhl sitzend selbständig und agil unterwegs sein kann.“ Es habe sich schon einiges gebessert. „Weil die Stadt und der EUV auf unsere Ratschläge eingehen. Wir schicken ihnen zum Beispiel Fotos von kniffligen Stellen und machen gemeinsame Begehungen. Es tut sich was. Die Bushaltestelle wurde umgebaut, damit sie für unsere Rollstuhlfahrenden nutzbar ist.“ Zuletzt wurde extra eine Hecke beschnitten, die zu weit auf den Bürgersteig ragte. „Aber es sind eben kleine Maßnahmen, die Zeit brauchen“, sagt Flick. „Eigentlich würden wir uns an jeder Ecke wünschen, dass nochmal mehr in Barrierefreiheit investiert würde.“ Erleichterung verschaffe im wahrsten Sinne die barrierefreie Toilette, die es in einer Bäckerei in Ickern gebe. „Vorher musste ich beim Ickern-Fest an der Kirche auf die Toilette gehen. Einmal hatten die da keinen Schlüssel – dann musste ich von unserem Stand bis zu mir nach Hause fahren“, sagt Justin Salhab.
Ihre Klienten seien unternehmungslustig, sagt Katharina Flick. „Sie beteiligen sich gern an der Gesellschaft.“ In Castrop-Rauxel wird intensiv an einem inklusiven Theaterprojekt mit dem Westfälischen Landestheater gearbeitet. Manche Klienten sind aktiv im Stadtteilverein, der zum Beispiel das jährliche Stadtteilfest organisiert. Besonders Justin Salhab sei aus dem Verein nicht mehr wegzudenken. Politiker seien im Garten der Lebenshilfe zu Gast gewesen, um Parteiprogramme in einfacher Sprache vorzustellen und Fragen zu beantworten. Eine Reisegruppe der Lebenshilfe hat vor Kurzem einen Ausflug nach Berlin unternommen, um den Bundestag zu besuchen.