Der südliche Rand von Castrop-Rauxel war vor über 50 Jahren von Landwirtschaft geprägt. Inmitten des Bildes ländlicher Idylle von Wiesen, Feldern und Höfen lag die ehemalige Mülldeponie Brandheide. Zwischen Merklinde und Frohlinde, nahe der Stadtgrenze zu Dortmund, lagerten von 1959 und 1972 alle erdenklichen Abfälle: von gewöhnlichem Hausmüll und Bauschutt bis hin zu teerbehafteten und giftigen Abfällen.
Die Brandheide ist heute zu einem Naherholungsgebiet saniert worden. Spaziergänger genießen dort die Natur. Doch es gibt Menschen, die sich an die anderen Zeiten, die der Mülldeponie, noch lebhaft erinnern. Menschen wie Karl-Heinz Hoffmann. Der Castrop-Rauxeler verbrachte in seiner Kindheit viel Zeit auf der Brandheide. Für ihn war die Müll-Landschaft kein Schrecken, sondern ein Abenteuerland.
„Ich bin aufgewachsen in der Harkort-Siedlung. Das ist das, was man heute einen sozialen Brennpunkt nennen würde“, sagt Karl-Heinz Hoffmann. Seine Eltern kamen 1957 als Flüchtlinge aus Polen und hatten wegen der Kriegszeiten nicht einmal einen Grundschulabschluss. Er bezeichnet seine Familie als „extrem bildungsfern“. Das sei in der Siedlung an der Harkortstraße in Merklinde aber die Regel gewesen, nicht die Ausnahme.
Als Flüchtling habe sein Vater bei Rütgers, heute Rain Carbon, trotz gelegentlicher Doppelschichten nur halb so viel verdient wie andere. Seine Mutter war Hausfrau. „Die Kriegserfahrungen haben etwas gemacht mit den Menschen. Die Männer haben fast alle getrunken, den ganzen Tag lang. Die Frauen haben es anders ausgelebt. Meine Mutter hat jeden Tag die gesamte Wohnung geputzt“, erzählt der 65-Jährige.
„Zu Hause war es gefährlich“
„Wir lebten in bitterer Armut, sind oft nicht satt geworden und haben im Winter viel, gefroren“, erzählt Karl-Heinz Hoffmann. Seine Eltern seien keine „guten Pädagogen“ gewesen, ganz im Gegenteil: „Damals wurden wir noch viel geschlagen und haben als Kinder zugesehen, dass wir möglichst wenig zu Hause sind. Da war es gefährlich oder zumindest unschön.“
Mit Freunden oder seinen drei Geschwistern streifte er also durch die Wälder, baute Baumhäuser oder staute Bäche. Aber auch der drei Kilometer lange Fußmarsch zur Brandheide lohnte sich immer. Der Ort sei für die Kinder aus mehreren Gründen interessant gewesen.

Die Deponie war damals nicht eingezäunt, sondern für die Kinder jederzeit frei zugänglich. „Bis 16 Uhr war eine Art Aufseher da. Der jagte uns manchmal weg, aber zehn Minuten später waren wir wieder da“, erzählt Hoffmann.
Nicht nur städtische, auch private Fahrzeuge luden auf der Brandheide Müll ab. „Die haben kurz mit dem Aufseher gesprochen, ihm was in die Hand gedrückt und dann irgendwas abgekippt. Das hat der Aufseher oft direkt angezündet – wahrscheinlich, um es zu vernichten, sodass man es nicht mehr identifizieren konnte. Für uns Kinder war das spannend.“
Neben den Feuern waren auch die Möwen, die in großer Zahl auf dem Gelände lebten, etwas Besonderes. Vor allem aber die Dinge, die man auf der Brandheide finden konnte, begeisterten Karl-Heinz Hoffmann und seine Freunde: „Früher hat man Altpapier noch zu Bündeln gewickelt und entsorgt. Da bestand immer die Hoffnung, dass vielleicht Comic-Hefte drin sind“, erzählt er.
Arm, aber kreativ
Auch Spielzeug konnten die Kinder auf der Brandheide finden – dass es beschädigt war, spielte keine Rolle. Der 65-Jährige erzählt: „Wir haben auch aus Stöcken oder Sachen, die wir fanden, irgendwas gebaut. Wenn man arm ist, entwickelt man sehr viel Kreativität, was man so alles machen kann.“
Ein besonderes Ereignis war für Hoffmann, als an der Brandheide ein Lieferwagen abgelaufene Pralinen entsorgen wollte. Damit die vollen Schachteln nicht wieder als Tauschware in Umlauf gerieten, kippte der Lieferant jede Schachtel einzeln aus. „Er hat uns ein paar Schachteln hingehalten und uns angeboten, wir könnten uns nehmen, was wir wollten“, erzählt Hoffmann.
„Kaum war er weg, haben wir die anderen Pralinen auch noch eingesammelt. Nicht alle, aber wir haben uns den Bauch vollgestopft. Ich erinnere mich noch, dass mir hinterher ordentlich schlecht war“, erzählt der 65-Jährige.
Zu Hause gab es für Hoffmann zu der Zeit keine Süßigkeiten. Plötzlich hatte er so viele Pralinen, dass er sie gar nicht alle aufessen konnte. „Ich habe damals einen Schulfreund gehabt, der hatte einen kleinen Blechpanzer. Den habe ich gegen zwei Hände voll Pralinen eingetauscht“, so Karl-Heinz Hoffmann.
Und heute? 50 Jahre später ist sein Spielzeugpanzer „T 96“ in der Ausstellung „Kindheit im Ruhrgebiet“ auf Zeche Zollverein im Ruhrmuseum in Essen ausgestellt. Als Kind freute er sich über das neue Spielzeug. Heute liegt seine Freude in der Erinnerung daran.

Mit Schrotflinte draufgehalten
Auf der Brandheide gab es aber auch Funde, über die sich Hoffmann und seine Freunde nicht so sehr freuen konnten. Im Gegenteil: „Da war so eine Apfelsinenkiste. Wir schauten durch eine Lücke hinein und dachten, wir hätten Plüschtiere gefunden. Aber es war leider ein toter Hund drin“, erzählt der 65-Jährige.
Auch viele Krähen lebten auf der Brandheide. Sie fraßen die Saat der anliegenden Felder. Das verstimmte die Landwirte. „Sie haben Verschläge gebaut, mit Maschendraht und Stacheln. Dann haben sie eine Krähe angeschossen und da reingeschmissen“, erzählt Hoffmann. Andere Krähen seien ihr zur Hilfe gekommen und hineingeflogen. Eine Falle: Sie konnten nicht mehr heraus.
„Wenn dann das Ding voll war, kam der Landwirt mit seiner Schrotflinte und hat einfach drauf gehalten. Das war für uns schrecklich, weil wir die Krähen auch klasse fanden“, sagt der 65-Jährige.
Im Alter von 8 bis 13 Jahren war Karl-Heinz Hoffmann auf der Brandheide unterwegs. Für ihn war sie ein kostenloser Supermarkt und ein Abenteuerland zugleich.
Als die Deponie geschlossen wurde, beließ man den Müll dort und decke ihn mit Erdreich ab, erinnert sich Hoffmann. Mitsamt all der Giftstoffe, die so im Boden verblieben. Die Sanierung, so Hoffmanns Sicht, sei mehr als nötig gewesen. Von der Fischtreppe hält er allerdings nicht viel: Er fragt sich, wie sie funktionieren soll.
„Ich bin die ersten zehn Jahre meines Lebens Vegetarier gewesen, weil Wurst und Fleisch teuer waren“, erzählt Hoffmann. „Erst als mein Vater bei Opel anfing, ging es aufwärts für uns. Dann kam sonntags Fleisch auf den Tisch.“
„Ohne Glück geht es nicht“
Dass Karl-Heinz Hoffmann irgendwann seinen Weg aus der Armut fand, hat er unter anderem seinem Hauptschullehrer Hubert Roth zu verdanken. Der entfachte in ihm einen Lerneifer. Hoffmann schaffte es trotz einiger Schwierigkeiten und Standesdünkel auf ein Gymnasium und erlangte letztlich einen akademischen Abschluss.
„In Familien wird die materielle Armut vererbt, die intellektuelle, also die Bildungsarmut und die emotionale Armut. Und wenn man raus will, braucht man mindestens drei Dinge, und nur auf zwei hat man eigentlich selber Einfluss“, sagt Karl-Heinz Hoffmann heute. „Das eine ist Intelligenz, das zweite ist Fleiß und das dritte ist eine Portion Glück. Ohne das geht es nicht.“

Heute lebt der 65-Jährige in einem Haus, für das er viele Jahrzehnte gespart hat. Die Armut, die er als Kind erlebte, prägt ihn noch immer: Seine Kleidung trägt er, bis sie nicht mehr zu flicken ist. Das Gefühl, „einfach mal was Neues im Kleiderschrank zu brauchen“, kennt er nicht. Stattdessen wertschätzt er viele Kleinigkeiten in seinem Leben: etwa im Winter mit Schuhen unterwegs zu sein, in denen man trockene Füße hat.
Trotz aller Herausforderungen hat sich Karl-Heinz Hoffmann das Kindliche bewahrt. Als Rentner lebt er es heute noch aus: „Ich habe mir vorletztes Jahr mein erstes Planschbecken gekauft. Damit kühle ich mich ab, wenn es draußen 30 Grad sind“, erzählt der 65-Jährige. Auch ein ferngesteuertes Elektroboot hat er sich kürzlich gekauft. „Das werde ich im nächsten Urlaub auf dem Teich fahren lassen. Sachen, die früher nicht gingen.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst am 23. September 2024.
