Rührendes Balkonkonzert mit Radio Ruhrpott: „Corona, du schaffst uns nicht!“

© Lena Heising

Rührendes Balkonkonzert mit Radio Ruhrpott: „Corona, du schaffst uns nicht!“

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Bernd Böhne von Radio Ruhrpott trat Freitag zwischen Balkonen und Fenstern auf. Einer der Zuschauer hatte einen ganz besonderen Grund zum Mittanzen: „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.“

Castrop-Rauxel

, 12.06.2020, 18:04 Uhr / Lesedauer: 4 min

„Guten Morgen, liebe Nachbarn“, dröhnt es am Freitagvormittag aus den Lautsprechern auf der Wiese zwischen den Wohnhäusern in der Leipziger Straße in Deininghausen. „Kommt raus, wir machen hier eine kleine Sause!“ Um 11 Uhr beginnt Bernd Böhne alias Erwin Machulke aus dem Castrop-Rauxeler Musical „Radio Ruhrpott“ ein Konzert. 40 Minuten lang wird er hier Songs aus der Show und weitere Lieder von Abba bis Wolfgang Petry spielen - ganze ohne Scheinwerferlicht.

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Balkonkonzert mit Hausmeister von Radio Ruhrpott

„Wir wollen den Leuten etwas gute Laune geben und gleichzeitig nicht in Vergessenheit geraten“, erzählt Böhne kurz vor dem Auftritt. Während er das sagt, tupft er immer mehr Klebstoff auf die falschen Zähne, die er sich für eine Verkleidung in den Mund stecken wird. Als Erfinder von „Radio Ruhrpott“ und Teil des Ensembles schlüpft er regelmäßig in die Rolle des Hausmeisters Erwin Machulke.

Böhne will die Bewohner aus dem Alltagstrott ziehen

Mit Beginn der Coronakrise fanden die Bühnenshows des Ruhricals, dem Musical aus dem Ruhrgebiet, ein jähes Ende. Erst im Juli darf er - Stand jetzt - zurück auf die Bühne. Bis dahin will er mit seinen Balkonkonzerten als Erwin Machulke die Leute ein bisschen „aus dem Alltagstrott herauskriegen“, sagt der 55-Jährige aus Kamen.

Der Immobilienkonzern Vonovia hatte Hausmeister Machulke engagiert, um vor den Balkonen ihrer Mieter im Ruhrgebiet zu spielen. Ein weiteres Mitglied des Ensembles kümmert sich um den Ton. „Wir freuen uns, den Leuten, die nicht viel rauskommen, etwas Unterhaltung bieten zu können“, sagt Böhne und klebt sich die schiefen Zähne an. Jetzt kann er bis zum Auftritt nicht mehr sprechen - der Kleber muss trocknen.

Tanzende Bewohner auf dem Balkon und der Wiese

Noch vor Beginn des Konzertes haben sich schon zwei Castrop-Rauxelerer mit Radio-Ruhrpott-T-Shirts eingefunden. Michael und Sonja Kleefeld bezeichnen sich als Fans des Musicals. Zweimal haben sie die Show schon gesehen. Als sie gehört haben, dass Böhne als Hausmeister Machulke Balkonkonzerte in Castrop-Rauxel am Schophof, an der Falkenstraße auf Schwerin und hier in Deininghausen spielen würde, beschlossen sie, vorbeizukommen. Am Nachmittag, sagt Michael Kleefeld, spiele Radio Ruhrpott bei ihm in der Nähe - da komme er vielleicht noch mal vorbei.

Als Böhne mit „New York, New York“ von Frank Sinatra beginnt, öffnen die ersten Bewohner ihre Fenster oder setzen sich auf den Balkon. Bei „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ kommt die erste Frau aus dem Haus und setzt sich mit einem Klappstuhl auf die Wiese. Böhne läuft mit seinem Mikro über die ganze Wiese, stellt sich an die Fenster und unter die Balkone und animiert die Bewohner zum Mitklatschen und Mitsingen. Auch die Kinder scheinen die alten Songs zu mögen - mehrere hüpfen auf den Balkonen im Takt. Vor einem Hauseingang haben es sich zwei Jungen gemütlich gemacht und schauen zu.

Das erste Balkonkonzert von Radio Ruhrpott in Castrop-Rauxel neigt sich dem Ende zu.

Das erste Balkonkonzert von Radio Ruhrpott in Castrop-Rauxel neigt sich dem Ende zu. © Lena Heising

Ein Zuschauer auf der Wiese scheint besonders viel Spaß an dem Auftritt zu haben: Frank Michalski hat sich, mit einem Hund an der Leine, unter die Bäume gestellt und tanzt schon nach den ersten Takten ausgelassen mit. Kimmy, die Enkelin seiner Lebensgefährtin, habe ihm von dem Konzert erzählt, sagt der 55-Jährige. Kurz darauf dreht er die zwölfjährige Kimmy an einer Hand im Takt, während er mit der anderen Hand ihren kleinen Bruder Nick auf seinem Arm hält. „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt“, sagt Michalski. „Deshalb kann ich auch so tanzen!“

Ein sechstes Leben

Michalski gehört zur Risikogruppe für das Coronavirus, erzählt er. Deshalb ist er, was Gesellschaft angeht, meist sehr vorsichtig. Am 12. März, sagt er, sei er am Herzen operiert worden. Danach starb er - fünf Mal. So drückt er es aus und meint: Fünfmal hätten die Ärzte es geschafft, ihn wieder zu reanimieren. Zeitweise sah es trotzdem so schlecht für ihn aus, dass die Ärzte seine Maschinen abstellen wollten. „Corona habe ich verschlafen“, sagt er.

"Ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Deshalb kann ich auch so tanzen", sagt Frank Michalski.

"Ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Deshalb kann ich auch so tanzen", sagt Frank Michalski. © Lena Heising

Während in Deutschland das öffentliche Leben aufgrund der Pandemie immer weiter eingeschränkt wurde, lag er im künstlichen Koma. Als er aufwachte, durfte er wochenlang niemanden sehen. Seine Angehörigen konnte er nicht in den Arm nehmen. „Das war sehr deprimierend“, sagt er.

Erst im Mai wurde Michalski aus der Reha entlassen. Ab da begann sein neues Leben: Er nahm wieder Kontakt auf mit einer Schulfreundin, die er viele Jahre aus den Augen verloren hatte. Seit zwei Wochen ist sie seine Lebensgefährtin. Dass er im Juni mit deren Enkeln zu einem Balkonkonzert tanzt, war im März nicht vorstellbar.

„Ruhrgebiet“ mit etwas angepasstem Text

„Die Gemeinschaft ist hier das schönste“, sagt Michalski. Das sei es ja, was den Menschen fehle. „Die Song-Auswahl ist für mich optimal - man ist ja damit groß geworden.“ Auch Kimmy hat bei dem Konzert ihren Spaß. „Ich finde es richtig toll dass er die ganze Zeit zu uns gekommen ist und in die Kamera gesungen hat“, sagt sie über Böhne.

Getanzt wird auch auf den Balkonen. Die 78-jährige Margarete Kollmer zieht es immer wieder aus ihrem Stuhl. „Ich fand es schön, das war richtig toll“, sagt die Seniorin hinterher. Sie hat sich das Konzert mit ihrer Tochter und ihrem Ehemann angeguckt. „Das Wetter war ja perfekt dafür“, sagt sie mit Blick auf den wolkenfreien Himmel. „Schöner wäre es nur gewesen, wenn noch mehr Leute da gewesen wären. Alle Fenster und Balkone hätten voll sein müssen“, findet ihr Mann Gerhard Kollmer.

Nach 40 Minuten beendet Böhne sein Konzert. Drei weitere Stationen in Castrop-Rauxel stehen heute noch an. Für den letzten Song hat er den Text etwas umgeändert: Wolfgang Petrys Ruhrgebiet-Klassiker hat bei ihm den Refrain: „Wir sind das Ruhrgebiet - Corona, du schaffst uns nicht!“