Das Wort „Katastrophe“, mit dem Kollegen in Nachbarstädten die Situation beschreiben, will ihnen noch nicht über die Lippen. Doch auch die Apotheker in Castrop-Rauxel kämpfen zum Jahresbeginn weiter mit dem Mangel an Medikamenten. Manche Schubfächer in den Regalen bleiben einfach leer. Das Thema ist komplex, der Gründe gibt es viele. Und manche davon sind hanebüchen. Wir haben Apotheker zu der Situation befragt.
Wie ist die aktuelle Lage in den Apotheken?
Der einzige gute Aspekt aktuell: Die starke Grippewelle scheint abzuflachen. Auch bei Kindern scheint es landesweit bergauf zu gehen. Mit Konsequenzen: „Bei Fiebersäften hat sich die Lage etwas entspannt“, sagt Winfried Radinger. „Es wird etwas geliefert, im Gegensatz zu gar nichts“. Aber dennoch: Rund 320 Produkte könne er derzeit für seine Altstadt-Apotheke am Markt in Castrop nicht bestellen. Ähnliches berichtet der Filialleiter Mahmoud Yousef von der Kleeblatt-Apotheke am Widumer Platz. „Wir haben über 13 Großhändler. Trotzdem sind über 300 Artikel nicht lieferbar.“
Claus Ehrensberger spricht für seine Glückauf-Apotheke auf Schwerin sogar von aktuell 500 Positionen. „Gestern habe ich gedacht, jetzt geht gar nichts mehr, aber dann habe ich heute doch noch 20 Packungen von einem Antibiotika-Saft aufgegabelt“, erzählt er. Das sei der Alltag.

Was bedeutet der Medikamentenmangel für die Arbeit der Apotheker?
Der Mangel an Medikamenten fordert in der Konsequenz viel Arbeitszeit. „Meine Mitarbeiterin im Einkauf ist viele Stunden am Tag damit beschäftigt, nach Medikamenten zu schauen“, sagt Radinger. Telefoniert wird mit Firmen und Großhändlern, gekauft auch im Internet. Da muss man schnell sein, wenn plötzlich wieder ein paar Positionen auftauchen. Und dann sind da noch die Telefonate mit den Ärzten, um abzuklären, welches Medikament ersatzweise mitgegeben werden kann. Auch das kostet Zeit. „Es wird immer schwieriger, zu den Ärzten durchzukommen“, sagt der Castroper Apotheker. Aber man versuche immer, praktikable Lösungen zu finden.
Wie ist die Situation für die Kunden in den Apotheken?
Viele Kunden, so berichten die Apotheker, rufen vorsichtshalber vorher an. „Ich höre dann, dass wir schon die neunte Apotheke sind“, sagt Winfried Radinger. „Für viele Patienten ist das belastend.“ Bei Claus Ehrensberger sind Kunden schon aus Hagen angereist. Wer einfach so in die Apotheke kommt, kann nicht immer mit dem Gewünschten bedient werden. Manchmal, so erzählt Claus Ehrensberger, schicke er dann die Kunden mit einem Post-it auf dem Rezept mit der Aufzählung möglicher Medikamente zum Arzt zurück. Auch das kann manchmal für Unmut sorgen, gerade wenn der Arzt nicht in der Nähe ist.
Besonders um ältere Kunden sorgt sich Winfried Radinger. „Viele sind verunsichert, wenn sie plötzlich ein Alternativ-Präparat nehmen sollen“, sagt er. „Kriege ich das richtige, hilft das überhaupt“, das seien die Fragen. Er vermutet, dass der eine oder andere dann lieber auf die wichtige Medikamenteneinnahme verzichte.

Was sind die Gründe für die Engpässe?
Wie überall machen sich auch in Castrop-Rauxel unterbrochene Lieferketten, mangelnde Rohstoffe, Personalmangel in der Herstellung bemerkbar. Apothekeninhaber Benjamin Lieske von der Ickerner Markt-Apotheke sagt aber auch: „In den vergangenen Jahren gab es aus unterschiedlichen Gründen auch schon Knappheiten. Wir hatten da aber immer Alternativen. Der Kunde hat das deshalb nicht mitbekommen.“
Vor allem Antibiotika und Penicillin sind weiter betroffen. Aber auch andere Produkte fehlen. Winfried Radinger empört, dass andere Medikamente aus nichtigen Gründen knapp werden. Ein Beispiel: Ozempic, ein Antidiabetikum, ist heiß begehrt bei gesunden Menschen, weil es beim Abnehmen helfen soll. Ein zweites Beispiel: Auch Elektrolyte für Kinder und Erwachsene, einzusetzen bei Durchfall, sind knapp. Auch sie, so Radinger, sind inzwischen Life-Style-Produkte und begehrt nach einer durchzechten Nacht.
Benjamin Lieske erzählt, dass Pantoprazol derzeit Mangelware sei. „Gut 60 Hersteller bieten diesen Magensäureblocker an. Kein einziger Hersteller kann momentan liefern.“

Pharma-Firmen können im Ausland mehr Gewinn machen. Deswegen hatte Karl Lauterbach die Festbeiträge ausgesetzt. War das hilfreich?
Der Gesundheitsminister hatte kürzlich erklärt, die Maßnahme habe Wirkung gezeigt. Die Lage habe sich deutlich entspannt, sagte er in diesen Tagen bei einer Veranstaltung. Festbeträge für insgesamt 180 Fertigarzneimittel waren aufgehoben worden – für drei Monate. Genau das kritisiert Winfried Radinger: „Es ist zu lange zu Tode gespart worden“, sagt er. Und mit einer so kurzzeitigen Maßnahme sei bei Firmen auch kein Umdenken zu erreichen. „In drei oder vier Monaten kann man nichts ändern.“
Die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Apotheker soll mit einer Pauschale von 50 Cent vergütet werden. Hilft das den Apotheken?
„Heiße Luft“ nennt Claus Ehrensberger diese Idee des Bundesgesundheitsministers. „50 Cent, das ist lächerlich“, sagt Winfried Radinger zu diesem Engpass-Zuschlag. Viel besser fände er es, „wenn sie uns man endlich anständig entlohnen würden.“ Die Vergütung pro verschreibungspflichtigem Medikament betrage 8,35 Euro – und das unverändert seit 14 Jahren und ungeachtet der andererseits stark gestiegenen Ausgabenseite. „Und wir müssen den Krankenkassen noch Rabatt geben“, empört er sich. 1,78 Euro waren das bis vor Kurzem, Lauterbach habe dies auf 2 Euro erhöht. Radinger: „Es wurde versäumt, eine an die Inflation angepasste, automatische Erhöhung zu vereinbaren.“
Was raten die Apotheker den Kunden?
Benjamin Lieske meint: „Wir als System müssen uns kümmern.“ Ärzte kennen die möglichen Alternativen, wenn ein Medikament nicht verfügbar ist. Für Patienten mit Langzeitmedikation hat er einen Tipp: „Am besten das Rezept nicht erst zwei Tage vor Ende der letzten Tablette einlösen, sondern ein bisschen Vorlauf einplanen.“