
Gerald Baars (69) schreibt in einem Gastbeitrag für unsere Redaktion, was Castrop aus seiner Sicht von Viterbo lernen kann. Am 30. Mai wird der Castrop-Rauxeler im italienischen Exil 70 Jahre alt.
Castrop und Viterbo ist ein bisschen ein Vergleich Äpfel mit Birnen, das muss ich einräumen. Beide Städte haben zwar die Einwohnerzahl gemeinsam, aber Viterbo ist eine Provinzhauptstadt und hat darum einige zentrale Funktionen, Castrop-Rauxel hat ja nicht einmal mehr ein Straßenverkehrsamt. Die Anziehungskraft von Viterbo ist darum größer – aber auch, weil die Italiener ihre Stadt lieben und dort auch gern ausgehen. Es sind zwar „nur“ 60 bis 70 Kilometer bis Rom. Aber der Regionalzug braucht sehr lange, weil er an jeder Milchkanne hält. Und mit dem Auto nach Rom zu fahren, ist kritisch wegen des Verkehrschaos‘. Auch deswegen ist Viterbo ein Oberzentrum.
Dennoch kann Castrop-Rauxel vielleicht von Viterbo lernen. Die Kaufkraft und das Einkommen in Italien sind im Durchschnitt spürbar niedriger als in Deutschland. Die Italiener setzen dennoch in ihrem Konsumverhalten ganz andere Prioritäten. Für Italiener ist es wichtig, immer gut gekleidet zu sein, und selbst wenn sie nicht viel haben, suchen sie die heimischen Modegeschäfte auf. Es ist auch offensichtlich, dass sie sozialer sind, also im Freundes- und Familienkreis mehr miteinander unternehmen als die Deutschen. An einem Wochenende kann man kaum in ein Restaurant gehen, wenn man nicht vorher reserviert hat. Alle Lokale sind brechend voll an einem Wochenende. Da wird dann auch Geld ausgegeben.

Das sparen die Italiener an anderer Stelle ein: Sie brauchen kein dickes Auto. Damit können sie eh nirgends in der Altstadt parken, sondern nur außerhalb der Stadtmauer. Aber auch das führt zu einer ganz anderen Lebensqualität in der Altstadt: Alle Bars und Restaurants stellen Stühle vor die Lokale, alle Außenplätze sind ab jetzt wieder monatelang rappelvoll.
Es kommt noch etwas dazu, das einen Unterschied macht: Wenn ich durch Castrop-Rauxel gehe, sehe ich viele leere Geschäfte, die offensichtlich leer stehen. Auch in Viterbo gibt es Leerstand, aber die Stadt hat eine Ausstellung „Mostra delle vitrine“ gestartet: Jeder Laden, der leer steht, wird mit einer Fototapete mit historischen Motiven beklebt. Die Leute wandeln also durch die Altstadt wie durch eine Ausstellung. Ihnen fällt so gar nicht auf, dass an die 100 Schaufenster „blind“ sind. Es haben sogar einige Ladenbetreiber bei der Aktion mitgemacht, die gar keinen Leerstand hatten, sondern die nur reichlich Schaufenster haben. Eine hervorragende Idee! Die Menschen kommen eigens für die Ausstellung nach Viterbo.

Ein anderes Problem sind Wohnungsleerstände. Ich wohne in einer Gasse, in die gar kein Auto reinfahren kann. Da kommt nur ein kleiner Lieferwagen durch, eine Ape, die täglich im Wechsel den Abfall abholt. Selbst darf ich nur vor 10 oder nach 20 Uhr in die Fußgängerzone fahren, um größere Einkäufe auszuladen. Das verlangt Organisation, und darum gehen nicht nur wir lieber jeden Tag in kleine Läden direkt im Umfeld: in eine Metzgerei, zum Obst- und Gemüsehändler, einen kleinen Supermarkt mit dem Nötigsten. Bei uns in Castrop-Rauxel sind diese Läden ja praktisch ausgestorben. Täglich gehe ich in diese Läden und hole das, was wir die nächsten zwei, drei Tage brauchen. Frisch, und es ist nicht einmal teuer. Wir fahren nicht vor die Stadt, auch wenn es da große Supermärkte wie den Lidl gibt.
Gerade die jüngeren Italiener wollen aber heute ihr Auto auch gern direkt vor der Tür haben. Nur die Älteren bleiben noch im historischen Zentrum. Immer mehr ziehen darum in Wohnungen außerhalb der Stadtmauern, wo man Garten, Balkon und Parkplatz vor dem Haus hat. So gibt es in der Altstadt inzwischen ganze Häuser, die leer stehen. Dadurch geht Kaufkraft bei den kleinen Läden verloren.

Das ist ein Problem für viele historische Städte in Italien. Aber die grundsätzlich andere Einstellung ist doch signifikant. Ich bin aktives Mitglied bei „Viterbo insieme – gemeinsam für Viterbo“. Da sage ich oft meinen italienischen Freunden: „Ihr jammert auf einem hohen Niveau. In Deutschland ist das drei, vier Mal schlimmer.“
Ich habe das Foto bei Facebook aus mehreren Gründen gepostet: Weil ich immer wieder beeindruckt bin, wie lebendig dieses Viterbo ist. Weil ich denke, dass die Italiener nicht jammern sollten. Und weil die Castroper bei ihrer Einstellung etwas dazu lernen können: Für die Italiener ist der Erhalt ihres historischen Stadtzentrums ein Herzensanliegen. Sie lieben ihre Städte. In Deutschland bin ich mir da nicht so sicher, ob dieses Ansinnen hohe Priorität genießt.
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