Bevor 1872 die Zeche Graf Schwerin, nach der der Stadtteil 1938 benannt wurde, mit der Kohleförderung begann, hieß das Fleckchen Land noch Westhofen. „Und da war eigentlich nichts“, sagt Jürgen Wischnewski, Vorstandsmitglied des Vereins „Kultur und Heimat“. Westhofen bestand 1844 aus vier Gehöften mit sage und schreibe 44 Bewohnern.
Wischnewski: „Der gesamte Berg war nur eine einzige große Wiesen- und Feldfläche.“ Am 1. Dezember 1872 begann das Abteufen des ersten Schachtes. Victor Cornelius Elfes, der als „Vater Schwerins“ gilt, und elf andere gründeten die Zeche Graf Schwerin. 15 Jahre später folgte die Eröffnung der ersten von drei Kokereien auf Schwerin, sagt Wischnewski. Und das sollte alles ändern.
Arbeiter aus dem Umland
Zunächst wurden die benötigten Arbeiter noch aus dem Umland besorgt, da die damalige Gesetzgebung den Koloniebau für kleinere Zechengewerkschaften erschwerte. Das sogenannte preußische Ansiedelungsgesetz besagte, dass eine Gewerkschaft, die eine Zechenkolonie bauen will, auch für die nötige Infrastruktur zu sorgen hat, also Straßen und Abwasserkanäle bauen und sogar einen Polizisten stellen musste. „Das war eine sehr bequeme Art, die Kosten vom Staat auf die Unternehmen umzulegen“, sagt Wischnewski. Aber die Zeche brauchte immer mehr Arbeiter, 1890 waren es schon mehr als 570, und so wurde 1896 mit dem Bau der 45 Häuser umfassenden Zechenkolonie Funkestraße begonnen.
Mit bis zu 15 verschiedenen Haustypen war sie im Vergleich zu den anderen Bergbausiedlungen in Castrop-Rauxel relativ abwechslungsreich. „Die anderen Kolonien waren von der Architektur her wie von Kindern mit Legosteinen gebaut. Quaderförmig, Dach drauf, fertig“, so Wischnewski. Die bis zu 300 Quadratmeter Gartenfläche pro Haus ermöglichten den Kumpeln die für die damaligen Verhältnisse übliche Subsistenzwirtschaft.
Schwerin: Wie eine Zeche einen Stadtteil schuf
„Hinten im Garten war dann der Stall, links das Plumpsklo, rechts Ziege oder Kaninchen. Die Leute, die da wohnten, haben sogar bis in die 50er-Jahre Schweine gezüchtet“, sagt Wischnewski, der dort zu Hause ist. „Es gibt noch Fotos davon, wie der Vorbesitzer unseres Hauses mit seinem Schwein durch die Straßen spaziert ist, damit es Muskeln kriegt.“ Kurz darauf wurde auch an der Bodelschwingher und der Schweriner Straße mit dem Siedlungsbau begonnen. Diese Siedlungsbauweise war auch ein Grund, warum sich Schwerin so anders entwickelt hat, als die übrigen Stadtteile Castrop-Rauxels. „Die normale Verstädterung von Stadtteilen oder Dörfern gab es hier gar nicht, weil es hier keinen Mittelpunkt gab“, so Wischnewski. Es gab keine Höfe oder Brunnen, um die sich ein Stadtkern entwickeln konnte, es gab nur die Zeche und ihre Kolonien.
Die letzten Jahre des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts waren eine Zeit der sozialen Bewegungen auf Schwerin. So beteiligten sich im Mai 1889 die Bergmänner der Zeche Graf Schwerin an den Bergarbeiterstreiks, die im ganzen Ruhrgebiet den Kohleabbau lahmlegten. Nach 15 Tagen konnten die Kumpel einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen und setzten ihre Arbeit fort. Ebenfalls 1889 wurde, wegen der Nähe zu den Zechen, an der Cottenburgstraße eine Sprengstofffabrik eröffnet.
Große Sorge auf Schwerin
Als acht Jahre später jedoch eine ähnliche Fabrik in Witten explodierte und dabei mehrere Arbeiter ums Leben kamen, war die Sorge auf Schwerin groß. Eine Bürgerbewegung wurde gestartet und führte 1909 auch zur Schließung der Produktionsstätte und zur Verlegung des Sprengstofflagers ins Grutholz. Damit die Gebäude nicht ungenutzt blieben, kaufte die Zechengewerkschaft sie auf und wandelte sie im Verlauf der nächsten Jahre in ein Ledigenheim um.
„Ein sogenanntes Bullenkloster“, in dem unverheiratete Kumpel untergebracht wurden. „Sie können sich vorstellen, was da abends abging“, sagt Wischnewski lachend. 1900 wurde auch der erste Versuch gestartet, Schwerin als eigenen Ortsteil anerkennen zu lassen. Der wurde aber aus Steuergründen sowohl von Castrop als auch von Rauxel abgelehnt – Westhofen lag damals genau auf der Grenze zwischen den damals noch getrennten Orten.
Die steigenden Einwohnerzahlen des Gebiets, das einmal Schwerin werden sollte, trieben auch den Wohnungsbau voran. Ab 1906 wurden die Dortmunder Straße und der Hellweg massiv bebaut, vor allem mit Häusern für Steiger und Beamte. Doch neben Häusern braucht ein Stadtteil noch mehr. So wurde auch der Ausbau der Infrastruktur weitergeführt.
Eine Kirche aus Holz
1907 wurde nicht nur die Straßenbahnstrecke Schwerin – Castrop errichtet, die später noch bis Ickern und Dorstfeld erweitert werden sollte, sondern auch die katholische Franziskuskirche an der Frohlinder Straße. „Die wurde wegen des Risikos von Bergschäden erstmal aus Holz errichtet, das war billiger“, sagt Wischnewski.
Erst in den 70er-Jahren wurde sie durch den heute noch bestehenden Betonbau ersetzt. Eine evangelische Gemeinde gab es zu diesem Zeitpunkt in Westhofen noch nicht. Sie wurde erst in den 30er-Jahren übergangsweise in einem zu einem Versammlungsheim umgewandelten Barackenbau an der Funkestraße gegründet und es dauerte noch weitere 30 Jahre, bis sie die Johanneskirche Am Weißdorn beziehen konnte. Was dem Stadtteil noch fehlte, waren Schulen.
Zunächst wurden die Westhofener Kinder der verschiedenen Konfessionen noch in Wanderklassen in Castrop unterrichtet. Das änderte sich, als 1913 die Pestalozzi-Schule an der Bodelschwinger Straße gebaut wurde. „Das war noch zu der Zeit, in der man evangelische und katholische Schüler strikt trennte. Durch eine weiße Linie auf dem Schulhof, die nicht mal von den Lehrern übertreten werden durfte“, sagt Wischnewski.
Dämpfer für die städtische Entwicklung
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der städtischen Entwicklung Westhofens natürlich ein Dämpfer verpasst. Teile der Belegschaft der Zeche wurden eingezogen oder durch Kriegsgefangene ersetzt – 1916 war von 2072 Bergleuten knapp ein Viertel Kriegsgefangene –, die Kohleförderung ging zurück und die Gelder für die Erweiterung des Stadtteils wurden anderen Ortes gebraucht. Und auch in der Zeit direkt danach sah es nicht besser aus.

Die Anlage Graf Schwerin 1912 © privat
Die Wirtschaftskrise fraß die öffentlichen Gelder und Castrop-Rauxel gehörte zu der französisch besetzten Zone. Als zwischen 1923 und 1924 ein französisches Infanterieregiment in Westhofen stationiert war, starteten die Bewohner des Stadtteils, insbesondere die Kumpel, einen sehr effektiven passiven Widerstand. Die Kohleproduktion und die Produktivität der Kokerei gingen in dieser Zeit um bis zu 80 Prozent zurück. Das und die generelle politische Entwicklung sorgten für einen baldigen Rückzug der Besatzer.
1938 war der gekommen: Nachdem die Zeche Graf Schwerin das Bild des Stadtteils seit nunmehr 66 Jahren dominiert hatte, wurde erneut ein Antrag an die Stadt gestellt, aus den Kolonien um Graf Schwerin einen eigenen Stadtteil zu machen. Diesmal klappte es und der Stadtteil „Schwerin“ ward geboren. Trotz eines Anstiegs der Bevölkerung blieb der Koloniecharakter Schwerins lange erhalten. „Bis 1930 gab es auf Schwerin eigentlich kein Zentrum. Keine Geschäftsleute, gar nichts“, sagt Wischnewski.
Kneipen zur Genüge
Erst mit dem Ende der Weltwirtschaftskrise änderte sich das. Auch alteingesessene Handwerksbetriebe suchte man auf Schwerin vergeblich. Was es allerdings immer schon zu Genüge gab, waren Kneipen. Zu Hochzeiten konnten durstige Kumpel zwischen 17 verschiedenen Lokalen wählen, um ihr Feierabendbier zu trinken. Die einzige Gaststätte, die den Wandel der Kneipenkultur überlebt hat, ist das „Haus Oe“ an der Frohlinder Straße.
Wie der Rest des Ruhrgebiets blieb auch Schwerin nicht von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs verschont. Das Schienennetz steht zu dieser Zeit nur noch in Nachschubzügen zur Verfügung, die Kampfhandlungen und Bombardements in und um Castrop-Rauxel sind auch dort zu spüren. Und mit Kriegsende kam direkt die nächste Wirtschaftskrise. Die britischen Besatzer stoppten den Wiederaufbau der Zechenanlagen, sodass der Kohleabbau zwischen 1945 und 48 fast zum Erliegen kam. Das merken natürlich auch die Bürger des Stadtteils, nicht nur die Kumpel.
Klein Korea wird bewohnbar gemacht
Erst in den 50er-Jahren ging es für den Stadtteil wieder voran und die Bebauung wurde fortgesetzt. Hinter dem Hammerkopfturm wurden vermehrt Reihen-, Doppel- und Eigentumshäuser gebaut und der Bereich zwischen Dortmunder Straße und Oberspredey wurde bewohnbar gemacht. „Klein Korea nannte man ihn“, so Wischnewski. „Damals war der Koreakrieg. Mit vielen Grabenkämpfen und da das ganze Gelände nur Feld und Acker war, musste alles durchpflügt werden.
Das sah, so erzählt man sich, aus wie diese Schützengräben in Korea. Auch das Pestalozzidorf am Hasenwinkel, in dem junge Bergbaulehrlinge in Bergarbeiterfamilien untergebracht wurden, um ihr Heimweh zu lindern, wurde Mitte der 50er-Jahre errichtet.
Der Höhepunkt des Bergbaus
Das Jahr 1957 war für Castrop-Rauxel der Hochpunkt des Bergbauzeitalters. Auf Schwerin lebten zu dieser Zeit ungefähr 11.000 Menschen und 3200 Bergleute und Beamte arbeiteten auf der Zeche. „Das waren jeden Tag 1000 Leute, die pro Schicht kamen“, sagt Wischnewski. „Wenn man sich überlegt, was das für ein Gedränge gewesen sein muss, wenn sich die Straßenbahnen schlagartig entleerten“, überlegt er. 1957 hatte man die Idee zur Planung eines ganz tollen Projekts. Um mit dem massiven Anstieg der Bevölkerungszahlen mithalten zu können, wurde im selben Jahr eine riesige Siedlung zwischen Schwerin und Frohlinde geplant. Dort sollte Platz für bis zu 8000 Menschen geschaffen werden. „Die Pläne waren komplett fertig, es wurden sogar schon Modelle angefertigt. Schulen, Kirchen, die Mischbebauung, alles war perfekt.“ Bis dann „just in dem Jahr das Zechensterben begann.“
Zehn Jahre nach dem Höhepunkt wurde die Zeche Graf Schwerin – als erste der Castrop-Rauxeler Zechen – geschlossen. Die Kokerei wurde noch acht Jahre weiter betrieben, allerdings mit Kohle aus den umliegenden Zechen, vor allem Erin. „Und dann wurden die Gebäude über Tage abgerissen, ein Bewusstsein für Denkmalschutz gab es nicht“, erinnert sich Wischnewski. Selbst der Malakowturm, der in seiner Bauweise – gemauert mit geraden Stützpfeilern – einzigartig war, fiel der Angst der Zechenbesitzer, auf Kosten für die Instandhaltung sitzen zu bleiben, zum Opfer.
Heute stehen nur noch drei Gebäude, die an das ehemalige Herz Schwerins erinnern: der Hammerkopfturm, ein kleines Nebengebäude an der Funkestraße und das alte Labor am südlichen Ende der Dortmunder Straße. Wegen der Änderungen im Schulsystem wurden auch vermehrt Schulen abgerissen, sodass von sechs Stück heute nur noch die Cottenburgschule übrig ist. Die alten Bergarbeiterheime im Stadtteil wurden in Asylheime und Notunterkünfte verwandelt. Sie sind längst Geschichte.
Auch die Umweltfolgen des Bergbaus sind heute noch auf Schwerin zu spüren. Ein unterirdischer Bach, der zu Zechenzeiten zur Entsorgung von Abfallprodukten genutzt wurde, verlief unter dem damaligen Sportplatz Westhofenstraße. „Da wurde eine mit Solaranlagen ausgestattete Siedlung drauf gebaut, die aber keine Keller hat. Aus gutem Grund“, erklärt Wischnewski. Der Hügel, auf dem der Schweriner Ring über dem Stadtteil thront, birgt kontaminiertes Erdreich, Reste vom Kokereibetrieb.

Zwei Mitarbeiter der Zeche Graf Schwerin posieren am 31. Januar 1967, dem letzten Tag der Zeche. © Helmut Orwat
„In der Hoffnung, dass da nie einer ein Loch reinbohren wird“, sagt der Rechtsanwalt. Ein in Folie verpacktes Landschaftsbauwerk, das begrünt wurde. Die Abraumhalde wurde in den 90er-Jahren durch Beforstung und preisgekrönte Kunstinstallationen wie die Sonnenuhr des hiesigen Künstlers Jan Bormann in ein sehr beliebtes Naherholungsgebiet verwandelt, da hier die Umweltbelastung nicht allzu groß war.
Inzwischen hat sich Schwerin fast zu einer eigenen kleinen Stadt entwickelt, mit dem Neuroder Platz und der Einkaufsmeile auf der Dortmunder Straße als städtisches Zentrum. „Wir haben hier alles, was wir brauchen“, sagt Wischnewski, Supermärkte, Schulen, Kirchen, Ärzte, Banken und eine Poststelle. „Da würde sich Frohlinde die Finger nach lecken, die kommen ja alle hier hin zum Einkaufen.“
Generation ohne Zeche
Nur eine Sache stört Wischnewski: „Es gibt inzwischen eine ganze Generation, die ohne die Zeche auf Schwerin aufgewachsen ist. Und Castrop-Rauxel wäre ohne die Zechen nichts anderes, als ein Haufen von kleinen Dörfern, wie man sie aus Oberfranken kennt.“
Deswegen und weil der Bergbau ein enorm wichtiger Teil der Stadtteilgeschichte Schwerins ist, sei und bleibe es unverzichtbar, dass es Vereine wie „Kultur und Heimat“ oder den Stadtteilverein „Wir auf Schwerin“ und ehrenamtliche Engagierte gebe, die versuchten, diese Bergbauzeit im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung zu halten, sagt Wischnewski.