Als Castrop-Rauxel die Nationalelf bejubelte - Erinnerungen an 2006

Als Castrop-Rauxel die Nationalelf bejubelte - Erinnerungen an 2006

rnDFB-Team zu Gast im Hotel Goldschmieding

Bei der Fußball-WM in Russland will der amtierende Weltmeister wieder Großes erreichen. Die deutsche Nationalmannschaft hat das Ziel Titelverteidigung. Der Titel war auch 2006 das Ziel. Wir erinnern an magische Momente mit dem DFB-Team am und im Hotel Goldschmieding.

Castrop-Rauxel

, 21.05.2018, 05:57 Uhr / Lesedauer: 5 min

Oliver Kahn sitzt in einem weißen T-Shirt und schwarzen Shorts auf einem Doppelbett. Die Ellenbogen sind auf seinen Oberschenkeln abgestützt, die Finger berühren das jeweilige Pendant der anderen Hand. Er beugt sich leicht nach vorne.

Dabei spricht er über einen der wohl bittersten Momente seiner Torwart-Karriere: die Niederlage im Rennen mit Jens Lehmann um die Nummer eins bei der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land. Es ist eine Szene aus dem Dokumentar-Film „Deutschland, ein Sommermärchen.“

Neben Kahn steht ein Nachttisch. Darauf liegen ein Buch und ein Telefon. Dahinter steht eine Lampe. An der Bettrückwand lehnt ein Brief, der die Handschrift von Kirsten Kohnke, damalige Hoteldirektorin des Hauses Goldschmieding an der Dortmunder Straße in Castrop, trägt. Es ist ein Grußwort an die deutsche Nationalmannschaft, die vor dem Vorrundenspiel gegen Polen in der Europastadt untergekommen war.

Das Hotel Goldschmieding im Ausnahmezustand

Zwölf Jahre später wird sich Kirsten Kohnke, die mittlerweile in der Nähe von München lebt und arbeitet, noch an viele Details erinnern, die das Hotel Goldschmieding im Juni 2006 in den Ausnahmezustand versetzt haben. „Wir hatten von Fifa, DFB und dem Sicherheitsdienst ganz klare Anweisungen, was, wann und für wen gemacht werden muss“, erzählt Kohnke. Da hatte sie noch nicht mit Andreas Köpke, Bundestorwarttrainer, und Lukas Podolski gerechnet, die kurzerhand die nagelneuen Sofas im Hotel umstellten. Jürgen Klinsmann versuchte Kirsten Kohnke sofort zu beruhigen. Was er genau gesagt hat, weiß sie nicht mehr ganz genau. „Machen Sie sich keine Sorgen, der Herr Köpke ist Innenarchitekt. Oder so ähnlich“, sagt die Hotel-Chefin, als wir uns gemeinsam mit ihr erinnern. Jetzt, so kurz vor der WM 2018 in Russland.

Hotel-Direktorin Kirsten Kohnke hatte den roten Teppich ausgerollt und freute sich auf die deutsche Nationalmannschaft.

Hotel-Direktorin Kirsten Kohnke hatte den roten Teppich ausgerollt und freute sich auf die deutsche Nationalmannschaft. © Goldhahn

Ob auch Podolski ein ästhetisches Auge für Möbel hatte, ist nicht überliefert. Sicher ist hingegen, dass „Poldi“ einer der aufstrebenden Stars dieser Mannschaft war. Zusammen mit seinem Kumpel Bastian Schweinsteiger. Zwei Stars, die heute auf eine große Karriere zurückblicken.

Der damalige Spieler des FC Bayern trägt am 13. Juni einen schwarzen Anzug und läuft über einen roten Teppich vorm Hotel. Eine Sonnenbrille schützt ihn vor der Sonne, die an diesem Tag über Castrop-Rauxel scheint. Sie brennt auch über Schweinsteiger – und den hunderten Schaulustigen Menschen, die seit den frühen Morgenstunden auf der Dortmunder Straße ausharrten, um einen kurzen Blick auf die Nationalspieler zu erhaschen.

„Das Beamtenherz jubelte innerlich mit“

Unter einem Baum steht damals Achim Waldert vom Ordnungsamt. „Mit der Polizei ist in den Tagen vorher ein Sicherheitskonzept erarbeitet worden. Das ging auch ohne Probleme auf“, erinnert sich Waldert, der heute immer noch bei der Stadt arbeitet. Einen Tag später veröffentlichte unsere Zeitung einen Bericht mit der Überschrift „Das Beamtenherz jubelte innerlich mit“ – ein Indiz für den reibungslosen Ablauf. „Zu diesem Anlass schwitzt man gerne“, sagte damals ein Polizist.

In der Tat passte in den Sommertagen des Jahres 2006 zur Weltmeisterschaft so ziemlich alles. Auch Dinge, die man nicht mit Geld erkaufen kann, wie etwa das Wetter. Und deshalb verteilte Kirsten Kohnke gemeinsam mit ihrem Team Wasserflaschen an die Leute, die in der brütenden Hitze warteten.

Für viele blieb das ganz große Happy End aus. „Alle waren mächtig enttäuscht, dass bis auf wenige Ausnahmen die Spieler kaum Autogramme geschrieben hatten“, weiß Achim Waldert noch genau. Es war zwar schon die Zeit der Digitalkameras. Aber an Smartphones dachten damals nur Entwickler, das Wort Selfie war noch nicht geboren.

Nicht lumpen ließen sich nur Bastian Schweinsteiger, Per Mertesacker, Manager Oliver Bierhoff und Christoph Metzelder, damals noch bei Borussia Dortmund unter Vertrag. Die vier hinterließen ihre Unterschriften auf Trikots und Fanartikeln.

Thorsten Frings, damals für den SV Werder Bremen aktiv, gab am Zaun ebenfalls fleißig Autogramme.

Thorsten Frings, damals für den SV Werder Bremen aktiv, gab am Zaun ebenfalls fleißig Autogramme. © Lukas

Metzelder erinnert sich auch noch an den Aufenthalt im Hotel Goldschmieding während der WM. „Die Partie gegen Polen im Dortmunder Westfalenstadion gehörte auch im Hinblick auf meine gesamte Karriere zu den emotionalsten überhaupt“, sagt Metzelder heute, „wegen der Dramaturgie mit dem Siegtreffer in der Nachspielzeit und der Stimmung im Stadion, die von Dortmund aus ins ganze Land überschwappte. Das war der Startpunkt für das Sommermärchen.“

Fußballtennis im Innenhof des Hotel Goldschmiedings

Rund um das Vorrundenspiel seien die Erinnerungen des 37-Jährigen etwas verblasst; präsenter hingegen die Abläufe vor dem Halbfinalspiel gegen Italien, das ebenfalls in Dortmund stattfand. „An diesem Tag“, erzählt er, „war das Wetter sehr gut. Wir haben morgens in einem Seminarraum des Hotels ein wenig Fußballtennis gespielt und uns mit den Fitnesstrainern aktiviert. Den Rest des Tages haben wir versucht, der Hitze aus dem Weg zu gehen.“, so der 47-fache Nationalspieler.

Dazu hatte das Hotel-Personal Dartscheiben und Kickertische aufgestellt. „Die Hotels an den Spielorten müssen zweckmäßig, in der Nähe des Stadions und mit ausreichend Seminarräumen für Besprechungen und Essen versehen sein. Unser Quartier in Berlin hatte dagegen den Hintergrund, zwischen den Spielen unser „Zuhause“ zu sein.“, so der spätere Verteidiger von Real Madrid, der heute als Sky-Fernsehexperte arbeitet und beim TuS Haltern und bei Preußen Münster im Vorstand und Aufsichtsrat mitmischt.

Eine richtig tolle Aktion der Polizei: Damit die Fans, die am vergangenen Montag viele Stunden lang vor Goldschmieding gewartet hatten, doch noch Spieler zu Gesicht bekommen konnten, hoben die Beamten rund 100 Kinder über den Zaun, damit sie von den Fanmassen nicht erdrückt werden konnten.

Eine richtig tolle Aktion der Polizei: Damit die Fans, die am vergangenen Montag viele Stunden lang vor Goldschmieding gewartet hatten, doch noch Spieler zu Gesicht bekommen konnten, hoben die Beamten rund 100 Kinder über den Zaun, damit sie von den Fanmassen nicht erdrückt werden konnten. © Jens Lukas

Dennoch ließen sie es sich gut gehen. Einmal, als Kirsten Kohnke durch das Hotel lief, stand sie plötzlich vor der halben Mannschaft, die sich in diesem Moment auf Massageliegen entspannte. „Auf der anderen Seite stand Jogi Löw, hat mich gesehen und den Daumen in die Luft gestreckt. Das war schon alles sehr lustig“, berichtet Kohnke.

Im ganzen Land, in der ganzen Stadt war die Stimmung dieser Tage besonders. Das fing am Stadtmittelpunkt an, wo viele Fans die Spiele der deutschen Mannschaft erstmals zusammen auf einer großen Leinwand schauten. Der Begriff Public Viewing war nach seiner Geburt zur WM 2002 in Südkorea und Japan gerade erst in Deutschland angekommen.

Auch ein paar hundert Meter vom Hotel Goldschmieding entfernt, in der Erin-Kampfbahn, wo der SV Wacker Obercastrop seine Heimspiele austrägt, ging es am Tag nach dem Polen-Spiel für die Castrop-Rauxeler Grundschulen um Pokale: bei der Kids-WM mit Organisatorin Claudia Wieser, die mit ihrem Team auch bei den folgenden Großereignissen ein Pendant für Schülerinnen und Schüler auf die Beine gestellt hat. Im Schatten des Förderturms der Zeche Erin wollte die ARD am Vortag eine Dokumentation über Castrop-Rauxel drehen - die Technik der Kamera machte jedoch schlapp.

Moderatorin Monica Lierhaus berichtete nach der Ankunft der Nationalmannschaft für die ARD regelmäßig aus Castrop-Rauxel.

Moderatorin Monica Lierhaus berichtete nach der Ankunft der Nationalmannschaft für die ARD regelmäßig aus Castrop-Rauxel. © Goldhahn

Zurück ins Hotel, gleicher Tag: Eine polnische Reisegruppe bezieht die Castrop-Rauxeler Unterkunft. Die Gäste werden übermäßig ausschweifend behandelt. Extra für sie wird ein roter Teppich ausgerollt - das denken die Gäste zumindest. „Ist der für uns?“, fragt der Reiseleiter Kirsten Kohnke. „Nein, der ist für die Mannschaft, die Sie aus dem Turnier schmeißen wird“, antwortet die Hotel-Chefin damals.

Das schockierte Gesicht des polnischen Gastes, sagt sie, habe sie auch noch zwölf Jahre später vor Augen. Schließlich behielt sie recht: Ecuador zog hinter Deutschland in die Runde der letzten 16 ein. Polen schied aus. „Das war böse von mir, aber vielleicht kann ich mich auch genau deshalb noch so gut an alles erinnern“, sagt Kohnke heute.

Ein Dokument mit der Bestätigung des DFB

„Alles“ ist dabei wörtlich zu verstehen. Ein paar Monate vor dem Turnier stand plötzlich eine Mitarbeiterin mit einem Zettel vor Kirsten Kohnke. Ein Fax oder eine ausgedruckte Mail waren es wohl, jedenfalls war das Dokument vom DFB und beinhaltete die Nachricht, dass die Mannschaft ins Hotel einziehen werde. „Das war für uns der Wahnsinn“, so Kohnke.

Wahnsinnig nervig soll dann ein Auftritt von Oliver Pocher gewesen sein. Der Comedian stand neben den wartenden Fans vor dem Hotel mit einem Mikrofon auf einer Leiter und rief jeden einzelnen Spielernamen auf – Buchstabe für Buchstabe. Die wartende Masse rief jeden einzelnen Buchstaben zurück.

Drei Wochen später war die Mannschaft erneut im Hotel Goldschmieding zu Gast - zur Vorbereitung auf das Halbfinalspiel gegen Italien. Es waren Schulferien. Claudia Wieser vom Marcel-Callo-Haus weiß das noch, denn sie war mit den Kindern der Ferienbetreuung vor Ort. Sie wollten sich Autogramme abholen. „Leider wurden wir abgewiesen“, erinnert sie sich heute. Ganz so viele Menschen wie vor dem Gruppenspiel versammelten sich nicht an der Dortmunder Straße. Es war ruhiger, bestätigt Achim Waldert vom Ordnungsamt. Vielleicht ein schlechtes Omen.

Für die DFB-Elf, die sich während des Turniers in einen Rausch spielte, stand das bis dahin wichtigste Spiel des Wettbewerbs an: das Halbfinale. Im Vergleich zu anderen Spielorten sei die Fahrt mit dem Bus vom Hotel Richtung Stadion länger gewesen, sagt Christoph Metzelder im Gespräch mit dieser Zeitung. Rund 17 Kilometer, vielleicht 25 Minuten. Daran lag es sicher nicht, dass Deutschland an diesem aufgrund zweier später Tore von Fabio Grosso und Alessandro Del Piero in der Verlängerung aus dem Turnier ausscheiden sollte.

Ein von allen Spielern signiertes Trikot

Auch für Kirsten Kohnke endete damit die Fußball-Weltmeisterschaft. Von der Mannschaft gab es ein von allen Spielern signiertes Trikot. „Mir ist wichtig zu sagen: Wir haben einfach nur unseren Job gemacht“, stellt sie klar.

Vor der Begegnung mit Polen erschien in der Lokalausgabe dieser Zeitung eine Glosse. Zwei Mal hatte der DFB bis dahin bei Goldschmieding gastiert, um sich auf Länderspiele vorzubereiten. Beide endeten nicht mit einem Sieg. „Beim dritten Mal klappt's“, lautete der Titel der Glosse. Der Autor behielt recht - bis das Halbfinale ihn im vierten Akt einholte. Das Aus gegen Italien. Unvergesslich blieb der Sommer 2006 trotzdem.