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Akten studieren statt Tabletts schleppen - Castrop-Rauxeler wagt Neuanfang
Stadt-Azubi mit 38 Jahren
Die Gastro-Branche klagt, dass sich wegen Corona viele Mitarbeiter beruflich neu orientieren. Ein Castrop-Rauxeler stellt sich nun ganz neu auf - mit 38 Jahren.
Viel hört man zurzeit davon, dass der Neustart der Gastronomie nach Corona dadurch erschwert werde, dass sich viele Servicekräfte in der Pandemiezeit neu orientiert hätten und nun nicht mehr zur Verfügung stünden. Im Waltroper Rathaus kann man jemanden antreffen, der tatsächlich der Gastro-Szene den Rücken gekehrt hat und mit 38 Jahren noch einmal eine berufliche Neuorientierung wagt: Marcel Hoffmann-Drews aus Castrop-Rauxel ist Verwaltungs-Auszubildender bei der Stadt Waltrop. Das erste von zwei Jahren hat er hinter sich und sagt schon jetzt: „Das war genau die richtige Entscheidung.“ Tabletts mit Getränken schleppen – das hat sich für ihn erledigt.
Letzte Station war das „Snice“ in Waltrop
Wer an Azubis denkt, der hat meist junge Menschen vor Augen, die zum ersten Mal mit der Arbeitswelt in Kontakt kommen – ein bisschen schüchtern und Zuspruch-bedürftig vielleicht am Anfang. Marcel Hoffmann-Drews ist eindeutig ein anderer Fall. Das Gastro-Fach hat er einst bei Riad in Henrichenburg gelernt, war dann in verschiedenen Betrieben, seine letzte Station war das Café Snice in Waltrop, das es bekanntlich inzwischen nicht mehr gibt.

Marcel Hoffmann-Drews am Telefon. © Gutzeit
Die Arbeit in Cafés und Restaurants bis zur Rente noch 30 Jahre durchziehen – das wollte er nicht. Zumal Corona das Gastronomie-Personal hart traf: Hoffmann-Drews kennt viele Ex-Kollegen, die in Kurzarbeit mussten, Existenzen von Gastronomen standen in großer Zahl auf dem Spiel. Im Sommer 2020 war für ihn mit der Gastronomie Schluss, fast nahtlos begann er seine Ausbildung an der Münsterstraße.
Bisher nur gute Erfahrungen
Marcel Hoffmann-Drews wollte berufliche Sicherheit, und die fand er im Waltroper Rathaus. Im Sozialbereich hat er schon reingeschnuppert, im Ordnungsamt und im Bürgerbüro, gerade ist er im Personalwesen, es folgt noch die Finanzabteilung. Die Erfahrungen? „Nur positiv bisher!“, schwärmt der Azubi. Überall sei er freundlich behandelt worden, das Arbeitsklima sei angenehm. Ohne das längst überholte Klischee vom Müßiggang in deutschen Amtsstuben wieder aufleben lassen zu wollen, sagt der lebenserfahrene und den Zeitdruck in Cafés und Restaurants gewohnte Castrop-Rauxeler doch: „Seit ich hier arbeite, hat sich mein Leben schon stark entschleunigt.“ Er hat gute Chancen auf eine Übernahme nach der Ausbildung, kann vielleicht sogar ein Wörtchen mitreden, in welchem Arbeitsbereich er zum Einsatz kommt. „Aber natürlich muss dort dann gerade eine Stelle frei sein.“
Gleich höher auf der Karriereleiter
Zurzeit sitzt der 38-Jährige gemeinsam mit Stadtsprecherin Andrea Middendorf in einem Büro. Sie freut sich über den Azubi mit Erfahrung im Leben und in der Arbeitswelt. Auch Leute mit einem solchen Lebenslauf sind der Stadt Waltrop als Bewerber weiterhin willkommen. Gerade hat sie neue Stellenanzeigen für Auszubildende für den Beruf des oder der Verwaltungsfachangestellten veröffentlicht.
Die Ausbildung, die Anfang August 2022 beginnt, dauert drei – statt wie in ähnlich gelagerten Ausbildungsgängen zwei – Jahre. Die Zeit besteht aus einer praktischen Ausbildung in der Verwaltung, berufsbegleitendem Unterricht am Studieninstitut Emscher-Lippe in Dorsten und einer theoretischen (schulischen) Ausbildung am Berufskolleg Kuniberg in Recklinghausen.
Zudem sucht die Stadt erstmals – oder laut Andrea Middendorf „mindestens erstmals seit langer Zeit wieder“ – Kandidaten für einen „dualen Studiengang Kommunaler Verwaltungsdienst (Bachelor of Laws)“, der es ermöglicht, gleich auf einer höheren Stufe auf der Verwaltungs-Leiter einzusteigen. „Verwaltungsintern dauert dieser Aufstieg sonst mindestens sechs Jahre, eher mehr“, sagt Andrea Middendorf.
Nachbarschaft zu Dortmund wird betont
Wie andere Kommunen auch, kann sich der Arbeitgeber Stadt Waltrop nicht darauf verlassen, dass ihm geeignete Kandidaten von selbst die Türen einrennen – man muss schon für die Vorzüge der eigenen Stadt werben.
„Im Kreis informieren sich die Städte gegenseitig, wenn sie Stellen ausschreiben“, sagt Andrea Middendorf. Aber natürlich orientieren sich potenzielle Bewerber nicht an Kreis-Grenzen, zumal am östlichen Rand des Kreises, wo viele ohnehin eher nach Dortmund oder Lünen schauen. Kein Wunder also, dass die Stadt bei ihrer Stellenausschreibung für eine Ausbildung zum/zur Verwaltungsfachangestellten damit wirbt, die Stadt „mit Charme und Charakter im östlichen Ruhrgebiet“ zu sein. Waltrop gehöre zwar zum Kreis Recklinghausen, liege aber auch „in direkter Nachbarschaft zu Dortmund“.
Selm ist ein klassischer Konkurrent
„Ein klassischer Konkurrent beim Werben um Personal ist eine Stadt wie Selm“, sagt Andrea Middendorf. Ähnliche Größe, ähnliche Struktur, nah an Waltrop – aber andere Kreis-Zughörigkeit. Wer den Hintergrund kennt, kann besser verstehen, auf welche Punkte die Stadt in ihrer Stellenanzeige abhebt. Ein „lebendiges Bindeglied zwischen Ruhrgebiet und Münsterland“ sei Waltrop, erfahren potenzielle Bewerber in der Anzeige. „Das spiegelt sich schon darin wider, dass sie weit über ihre Grenzen hinaus sowohl als ,Wohnstadt im Grünen‘, als auch als ,Stadt der Schiffshebewerke‘ bekannt ist.“ Angepriesen werden „vielfältige Naherholungsmöglichkeiten, beliebte Kulturveranstaltungen, bekannte Industriedenkmäler und einer der ältesten mittelalterlichen Stadtkerne Nordrhein-Westfalens“.
Für Marcel Hoffmann-Drews indes ist die Bindung nach Waltrop ein bisschen handfester: Eine Tochter wohnt hier.
„Recht zu wissen, wann Feierabend ist“
Für die schwierige Lage in ihrer Branche macht die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) insbesondere die Einkommenseinbußen durch die Kurzarbeit verantwortlich: „Gastro- und Hotel-Beschäftigte arbeiten sowieso meist zu geringen Löhnen. Wenn es dann nur noch das deutlich niedrigere Kurzarbeitergeld gibt, wissen viele nicht, wie sie über die Runden kommen sollen“, heißt es dort. Wenn die gut ausgebildeten Fachkräfte in Anwalts- oder Arztpraxen die Büroorganisation übernähmen oder in Supermärkten zwei Euro mehr pro Stunde verdienten als in Hotels und Gaststätten, dürfe es laut NGG nicht überraschen, dass sich die Menschen neu orientierten. Schon vor Corona seien die Arbeitsbedingungen nicht rosig gewesen, das Gastgewerbe unattraktiv geworden. Die NGG sagt: „ Auch Servicekräfte haben ein Recht darauf, vor dem Dienst zu wissen, wann Feierabend ist. Sie haben Anspruch auf eine anständige Bezahlung – unabhängig vom Trinkgeld. Und auf eine faire Behandlung durch den Chef.“Geboren und aufgewachsen in Gelsenkirchen-Buer, studiert in Bochum und Dublin. Wollte seit dem Schülerpraktikum in der achten Klasse nie etwas anderes werden als Journalist. Als freier Mitarbeiter seit dem 14. Lebensjahr eifrig darauf hin gearbeitet, den schönsten Beruf der Welt zu ergreifen. Dann in Osthessen zur Redakteursausbildung. Im Jahr 2006 von Osthessen ins Ostvest. Tief eingeatmet und mit Westernhagen gesagt: “Ich bin wieder hier, in meinem Revier.” Das geliebte Ruhrgebiet, das Ostvest, auch und gerade das kleine Waltrop: Fundgruben für Geschichten, die erzählt werden wollen. Immer wieder gerne.