Die Charakterfrage, sie ist (auch) in dieser Saison bei Borussia Dortmund häufiger gestellt als überzeugend beantwortet worden. Heute hü, morgen hott. Die Wankelmütigkeit der BVB-Profis lässt Fans und Verantwortliche regelmäßig ratlos zurück. In der Endphase der laufenden Runde sehnen sie sich bei Schwarzgelb nach Ruhe, Kontinuität und Stabilität.
BVB will „weiße Fahne noch nicht hissen“
„In der Bundesliga ist die Saison noch nicht abgeschlossen, deswegen möchte ich noch nicht die weiße Fahne hissen“, betonte Sebastian Kehl nach dem 2:1-Sieg in Lille. Das damit verbundene Weiterkommen in der Champions League hat dem BVB-Sportdirektor neue Zuversicht eingehaucht. „Wir wissen, in welcher Situation wir uns befinden, deswegen ist die Kritik auch angebracht. Wir haben mit dem Spiel gegen Leipzig, gegen Mainz und Freiburg nun die Möglichkeit direkte Konkurrenten zu bespielen, Punkte zu holen und weiter ranzukommen – das ist das Ziel.“
Soll die noch immer mögliche Aufholjagd gestartet werden, muss die Borussia die eigenen Schwankungen dauerhaft auf ein Minimum reduzieren. Dazu braucht es entsprechende Leistungen. Die wiederum sind auch das Resultat eines gesunden Konkurrenzkampfes im Kader. Der aber fehlt bis auf wenige Außnahmen. Die erste Elf stellt sich praktisch von selbst auf. Das könnte im Saison-Endspurt zum großen Problem für Niko Kovac werden.
Im BVB-Zentrum klafft ein Loch
Der BVB-Trainer versuchte, diesem Eindruck vor dem heutigen Duell bei RB Leipzig (18.30 Uhr, live auf Sky) freilich entgegenzutreten. „Es freut mich, dass wir jetzt einen Konkurrenzkampf haben, der jeden Einzelnen zu etwas Höherem treibt. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Mannschaft davon profitiert“, sagte Kovac. Der 53-Jährige nannte explizit Maximilian Beier, der zuletzt den Vorzug gegenüber Jamie Gittens erhielt.
Tatsächlich aber steckt der in der Hinrunde so stark performende Gittens seit Wochen in einem veritablen Tief. Es ist eher dessen Schwäche als Beiers Stärke geschuldet, dass der Blondschopf nun verstärkt zum Einsatz kommt. Julien Duranville wiederum hat auch in seinem dritten BVB-Jahr mit mehr oder wenigen großen Anpassungsproblemen im Seniorenfußball zu kämpfen. Dem 18-jährigen Belgier fehlt auch unter Kovac (wettbewerbsübergreifend 71 Minuten in fünf Kurzeinsätzen) die nötige Robustheit.
BVB-Profi Brandt im dauerhaften Tief
Noch trüber sind die Perspektiven im offensiven Zentrum. Hier erhält Julian Brandt Woche für Woche das Vertrauen, ohne es zu rechtfertigen. Der 28-Jährige durchläuft in seinem sechsten Jahr bei Schwarzgelb seine persönlich schwerste Krise. Das Selbstverständnis ist futsch. Normalerweise wäre es überfällig, den Mittelfeldspieler vom Platz und damit aus der Schusslinie zu nehmen. Doch es fehlt auch hier an Alternativen.

Giovanni Reyna hat seine beiden Startelf-Chancen gegen Union Berlin und St. Pauli in den Sand gesetzt. Dem US-Amerikaner fehlt jegliche Bindung zum Spiel, auch ihm fehlt es an Selbstvertrauen und obendrein an Rhythmus. Und Carney Chukwuemeka? Der Winter-Neuzugang entwickelt sich immer mehr zum sportlichen Missverständnis. Der vom FC Chelsea ausgeliehene Engländer habe noch „keine Kraft für 90 Minuten. Wir müssen ihn über 15, 20, 30 Minten punktuell aufbauen. Das ist das, was im Moment möglich ist“, meinte Kovac am Freitag. Dass Dortmund im Sommer die vereinbarte Kaufoption in Höhe von 35 Millionen Euro ziehen wird, erscheint ausgeschlossen.
BVB-Trainer Kovac: „Mir sind die Hände gebunden“
In der Viererkette gäbe es links einen Konkurrenzkampf zwischen zwei gleichwertigen Spielern. Zumindest theoretisch, doch Daniel Svensson ist verletzt. Damit ist Ramy Bensebaini gesetzt. Auf rechts hat Julian Ryerson klar die Nase vor Yan Couto. In der Innenverteidigung ist die Hierarchie ebenfalls zementiert. Niklas Süle und Waldemar Anton müssen sich hinten anstellen.
An Nico Schlotterbeck und Emre Can gibt für beide derzeit kein Vorbeikommen. „Wir haben sehr viel Stabilität, lassen nicht viel zu, wir kassieren wenig Gegentreffer. Das ist auch ein Verdienst der beiden. Was gleichzeitig natürlich bedeutet, dass diejenigen, die hinten dran sind, es nicht einfach haben. Wenn die anderen so gut sind, sind dem Trainer schon auch die Hände gebunden“, meinte Kovac.
BVB-Trainer Kovac mit Sonderlob für Anton
Anton bot der Trainer in Lille überraschend als Ersatz für den im Ramadan geschwächten Bensebaini auf. „Ich glaube, dass Waldi auf der Innenverteidiger-Position sicherlich stärker ist als als Außenverteidiger. Er hat eine ganze Zeit nicht gespielt, musste warten und hat trotzdem geliefert. Er hat es sehr gut gemacht“, befand Kehl.
Auch von Kovac gab es Lob für den auserwählten Hummels-Nachfolger, der es im Aufbau und bei der Arbeit gegen den Ball „sehr gut“ gemacht habe. Daher sei er „wieder eine Option mehr, darüber freue ich mich. Das bedeutet auch: Der Druck im Kader erhöht sich dadurch auf jeden Einzelnen.“ Das wiederum ist bislang eher frommer Wunsch als Wirklichkeit. Richtiger Konkurrenzkampf sieht jedenfalls anders aus. Genau der aber ist unerlässlich, um im Saison-Endspurt noch die Kurve zu bekommen.