Seit seinem Coming-Out vor zehn Jahren ist Thomas Hitzlsperger der prominenteste offen schwule Ex-Fußballprofi. Mit seinem offenen Umgang mit seiner Homosexualität ist er aber nach wie vor die Ausnahme. Warum ist das so? Dieser Frage geht der Film „Das letzte Tabu“, der bei Prime Video zu sehen ist, auf den Grund. Hitzlsperger ist einer ihrer Protagonisten. Leopold Hoesch hat den Film produziert. Im Doppel-Interview mit RN-Redakteur Cedric Gebhardt sprechen die beiden über die Herausforderung, dem Thema klischeefrei zu begegnen, über Felix Nmecha, die Verantwortung von Borussia Dortmund im Umgang mit diesem sensiblen Thema und die große Scheinheiligkeit im Profi-Fußball.
Herr Hitzlsperger, es gibt 500.000 Profifußballer weltweit, aber nur sieben sind offen schwul. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Hitzlsperger: Es existiert nach wie vor eine gewisse Angst davor, sich zu outen. Auch ich hatte Sorgen und Ängste. Ich kann also durchaus nachvollziehen, wenn man lieber im Status Quo bleiben möchte, weil man denkt, der wäre erträglicher und das eigene Leben würde nach dem Coming-Out schlechter. Bei mir sind die Befürchtungen, die ich hatte, am Ende nicht eingetroffen. Dennoch ist es schon erstaunlich, dass gesellschaftlich so eine Angst existiert, sich zu einer Minderheit zu bekennen. Als Homosexueller ist man Teil einer Minderheit. Und Minderheiten werden global diskriminiert und ausgegrenzt. Daher ziehen es manche vor, sich nicht zu outen.
Herr Hoesch, was hat Sie an dieser Thematik so fasziniert, dass Sie einen Film daraus gemacht haben?
Hoesch: Zum einen hat mich Thomas Hitzlspergers Geschichte immer schon fasziniert als Fußballer, Manager und auch als Mensch und Vorbild. Darüber hinaus hat mich diese eine Zahl enorm überrascht: Eine halbe Million Männer spielen weltweit professionell Fußball und nur sieben trauen sich zuzugeben, dass sie homosexuell sind. Diese Zahl hat mich berührt. Wir haben uns die Frage gestellt, warum das so ist. Wir haben uns dem Thema von allen Seiten genähert, insbesondere aber aus der Perspektive der großen Mehrheit der Gesellschaft. Der wollten wir mit diesem Film eine Stimme geben.

Sie haben einmal das Gefühl, Filme zu machen damit verglichen, wie es ist, Fußball spielen zu lassen. Von der Seitenlinie sehe beides ganz leicht aus. Die Komplexität liege auf dem Feld. Sie zu verstehen und die Anordnung zu verbessern, das sei die Kunst eines Trainers und auch die eines Produzentens. Worin bestanden die Herausforderungen bei der Produktion von „Das letzte Tabu“?
Hoesch: Die Herausforderung für uns ist immer als Team so zu arbeiten, dass wir einen klischeefreien Film hinbekommen oder dass wir Klischees als solche enttarnen. Ich finde das hat gut funktioniert, ohne als Produzent von der Seitenlinie viel eingreifen zu müssen. In vielen inhaltlichen Gesprächen mit unseren Partnern Prime Video und ZDF haben wir uns gegenseitig immer wieder auf die Erreichung des Zieles hin überprüft.
Herr Hitzlsperger, Sie sind seit Ihrem Coming Out vor zehn Jahren der wahrscheinlich prominenteste offen schwule Ex-Fußballprofi. Welche Hoffnungen, die mit Ihrem Outing verbunden waren, haben sich seither erfüllt? Und welche nicht?
Es war für mich damals sehr schwer vorherzusehen, was nach meinem Coming-Out kommen würde. Die Reaktionen waren überwältigend positiv. Ich glaube, dass die Diskussion über dieses Thema seither wirklich aufgenommen und auch weitergeführt wurde. Heute können wir selbstverständlich darüber sprechen, dass viele Bundesliga- und Zweitliga-Vereine, aber auch viele Klubs im Ausland sich ganz klar positionieren, wenn es um Vielfalt und Antidiskriminierung geht. Ich finde, da hat sich schon sehr, sehr viel getan. Die Rahmenbedingungen haben sich deutlich verbessert. Dennoch traut sich in Deutschland auf höchstem Niveau weiterhin kein schwuler Fußballer, sich zu outen. Das führe ich auf den gesellschaftlichen Druck zurück, der noch immer herrscht.

Der ehemalige schwule Fußballprofi Marcus Urban kommt in „Das letzte Tabu“ ebenfalls zu Wort. Dort sagt er, dass er sich an einem bestimmten Punkt entscheiden musste gegen seinen Traum, Profifußballer zu werden, und für ein Leben in Freiheit. Das klingt unglaublich bedrückend. Können Sie aus eigener Erfahrung schildern, was es als nicht offen schwuler Fußballprofi bedeutet, einerseits im Rampenlicht zu stehen und gleichzeitig einen elementaren Bereich seines Lebens in totale Dunkelheit zu hüllen?
Hitzlsperger: Eine lange Zeit hat mich das überhaupt nicht belastet und es hat gut funktioniert. Sonst hätte ich auch nicht spielen können. Erst zum Ende meiner Karriere ist es ein Problem geworden. Ich habe mich nicht mehr wohl gefühlt und hatte das Bedürfnis, offen und ehrlich zu sprechen. Ich musste das adressieren. Ich habe nach und nach die Freude am Fußball verloren und fühlte mich im Kreise der Kollegen unwohl, weil ich Sorge hatte aufzufliegen. Ich spürte, dass nicht alle Kollegen einen entspannten Umgang mit Homosexualität hatten. Das hat mich stark verunsichert.

Kraft, Stärke, Durchsetzungsvermögen – fast alles, was einem im Fußball nützt, ist männlich konnotiert. Haben wir damit schon den Kern des Problems getroffen? Ist diese heteronormative Denken womöglich die größte Hemmschwelle, sich zu outen, weil Homosexualität vielen noch immer als Synonym für Schwäche gilt?
Hitzlsperger: Mit dieser Denke bedient man ein Klischee. Deshalb ist es so wichtig, sichtbar zu sein und zu zeigen, dass das nicht stimmt. Zu Spielerzeiten war mein Spitzname „The Hammer“, das ist das Gegenteil von weich. Mit unserem Film möchten wir die Leute einfach mal zum Nachdenken bringen, sie aus ihrem Schubladendenken rausholen.

Noch immer lastet ein enormer Druck auf schwulen Fußballern. Bei Sparta Prag hat sich im vergangenen Jahr in Jakub Jankto ein tschechischer Nationalspieler geoutet und es hat kaum Anfeindungen gegeben. Sind die Fußballfans in Wirklichkeit viel weiter, als wir denken?
Hitzlsperger: Es gibt Argumente dafür und dagegen. Ich habe seit meinem Coming-Out sehr viele gute Erfahrungen gemacht. Aber es gibt leider auch nach wie vor Hasskriminalität und homophobe Beleidigungen und Gesänge in den Stadien. Als ich aber für den VfB Stuttgart gearbeitet habe, in unterschiedlichen Positionen vom Präsidiumsmitglied bis hin zum Vorstandsvorsitzenden, habe ich zu keiner Zeit Diskriminierung erlebt. Fans der Clubs formulieren mittlerweile ganz klar den Anspruch, dass sich ihr Verein klar gegen Diskriminierung stellt. Und schwul-lesbische Fanclubs sind eher die Regel als die Ausnahme.
Während der WM in Katar wollte die deutsche Nationalmannschaft mit ihrer Hand-vor-den-Mund-Geste vor dem Spiel gegen Japan ein Zeichen für Vielfalt setzen. Ursprünglich sollte Kapitän Manuel Neuer mit der One-Love-Binde auflaufen, die dann von der Fifa verboten wurde. Der DFB ist daraufhin eingeknickt. Vieles wirkt wie Symbolpolitik. Herr Hitzlsperger, Sie sind Botschafter für Vielfalt beim DFB. Tut der Verband aus Ihrer Sicht genug?
Hitzlsperger: Ich glaube, mit diesem Thema während der WM richtig umzugehen, war schlichtweg eine Überforderung. In Deutschland wurde das alles als ein Desaster wahrgenommen, aber im Ausland gab es durchaus auch Lob dafür, wie wir Deutschen damit umgegangen sind. Ich glaube, wir haben der Mannschaft in Katar etwas abverlangt, was sie nicht leisten konnte, weil nicht alle Spieler vollends davon überzeugt waren. Da haben wir kein gutes Bild abgegeben. Aber der DFB ist ja viel mehr als die Nationalmannschaft. Der Verband ist sich seiner sozialen Verantwortung durchaus bewusst. Es gibt inzwischen in den Landesverbänden feste Ansprechpartner, die sich um die Themen Ausgrenzung, Diskriminierung und Homofeindlichkeit kümmern. Der DFB hat vor drei Jahren zudem eine Anlaufstelle für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt eingerichtet. Der Verband tut also durchaus einiges.

Was wünschen Sie sich von so einem großen Klub wie dem BVB, der sich mit dem Claim „Borussia verbindet“ seit Jahren gegen jegliche Form der Diskriminierung einsetzt?
Hitzlsperger: Ich weiß natürlich, dass der BVB in der Stadt eine riesengroße Bedeutung hat. Einen konkreten Wunsch an Borussia Dortmund habe ich nicht. Ich glaube aber, dass es sich der Verein bei der Verpflichtung von Felix Nmecha ein bisschen zu leicht gemacht hat. Es geht eben darum, das so oft es geht auch wirklich zu leben, was man nach außen darstellen möchte. Aber ich weiß auch: Das Fußballgeschäft ist voller Widersprüche. Unterm Strich denke ich, dass der BVB wichtige Arbeit gegen jede Form von Diskriminierung leistet.

Sie haben die Personalie Felix Nmecha bereits angesprochen. Vor der Saison hat dessen Transfer bei den Dortmunder Fans für kontroverse Diskussionen gesorgt, weil Nmecha im Netz homophobe Inhalte geteilt hat. Teile der BVB-Anhängerschaft haben durchaus nachvollziehbar argumentiert, dass der Verein mit dieser Verpflichtung gegen die eigenen Werte verstößt. Sind Werte, wenn es hart auf hart kommt, im Profifußball nur zweitrangig?
Hitzlsperger: Ja, diesen Eindruck habe ich schon. Mein Ex-Klub VfB Stuttgart hat einen Wettanbieter als Trikotsponsor. Wäre er gerade nicht so erfolgreich, würde die Diskussion darüber womöglich anders geführt. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Nach dem Terrorangriff der Hamas bekundet Bayern München seine Solidarität mit Israel. In Nouassir Mazraoui sorgt aber ein Spieler mit einem Pro-Palästina-Beitrag für Aufsehen. In solchen Fällen werden Vereine immer einen Weg finden, um den Spieler zu behalten. Und wenn man, wie Mainz 05, einen Spieler freistellt, hat es ein juristisches Nachspiel. Es existiert eine Doppelmoral im Fußball.
Der 1. FC Köln hatte im vergangenen Jahr einen eigenen Truck beim CSD. In Timo Hübers und dem Ex-Dortmunder Steffen Tigges sind sogar zwei Profis auf dem Wagen mitgefahren. Bräuchte es nicht mehr solcher Positivbeispiele aller Bundesligisten, um eine unterstützende Umgebung für offen homosexuelle Spieler zu schaffen?
Hitzlsperger: Dass sich der 1. FC Köln an der CSD-Parade beteiligt, ist für mich ein weiterer Beleg dafür, dass sich die Dinge zum Positiven entwickeln. Es zeigt auch, dass viele Spieler in der Bundesliga überhaupt kein Problem und keine Berührungsängste mit dem Thema haben. Das ist super, denn es hilft, straight allies (heterosexuelle Verbündete, d.Red.) zu haben. Es gab auch die tolle Aktion „Ihr könnt auf uns zählen“ von „11Freunde“ und auch der „Kicker“ bezieht inzwischen sehr viel klarer Stellung zu gesellschaftspolitischen Themen. All das hilft, das Umfeld immer mehr zu verbessern, bis zu dem Punkt, an dem in Deutschland mal ein Spieler sagt: Jetzt gibt es so viele positive Signale, ich habe nichts mehr zu befürchten.

Herr Hoesch, auch „Das letzte Tabu“ könnte einen solchen wertvollen Beitrag leisten. Was ist die Intention Ihres Films? Verstehen Sie ihn in erster Linie als Plädoyer für mehr Offenheit und Mut?
Hoesch: Wir fangen nie Filme mit dem Ziel an, ein Plädoyer zu verfassen, wir versuchen immer einen guten Film zu machen, der eine unerwartete Geschichte überraschend erzählt. Filme sind meistens gut, wenn wahrhaftige Geschichte mit starken Protagonisten empathisch erzählt werden. Es geht um etwas Zwischenmenschliches, das ans Herz geht. Es muss immer das Ziel sein, einen berührenden Film zu machen, der im Zuschauer etwas auslöst. Und ich glaube, dass nur gute Filme am Ende als Plädoyer funktionieren und vielleicht sogar ein wenig die Welt verändern können. „Das letzte Tabu“ ist aus meiner Sicht keine Anklage, sondern eher ein manifestierender Film, der zeigt, wie viel auch schon erreicht wurde. Thomas Hitzlsperger ist darin ein brillanter Botschafter. Er ist wie jemand, der in ein fremdes Land gesandt wurde, aber perfekt die Landessprache beherrscht. Jemand, der sehr viel Nähe aufbaut und dem man beim besseren Verständnis dieser anderen Welt folgen kann.

Marcus Urban hat für den 17. Mai ein Gruppenouting mehrerer Fußball-Profis angekündigt. Angeblich sollen Spieler aus der Bundesliga und der Premier League beteiligt sein. Was halten Sie von diesem Vorhaben?
Hitzlsperger: Ich bin sehr gespannt, was an diesem Tag passieren wird. Wenn es tatsächlich so kommen sollte, wäre das schon etwas ganz Großes. Da gibt es neue Gesichter, neue Geschichten. Das hilft immer. Ich habe meine Geschichte jetzt zehn Jahre lang erzählt. Irgendwann ist auch mal gut. (lacht)
Was muss passieren, damit das letzte Tabu irgendwann kein Tabu mehr ist?
Hitzlsperger: Ich würde sagen, wir müssen weitermachen. Es gibt nicht diese eine Sensation, die alles verändert. Der stete Tropfen höhlt den Stein. In Deutschland stand Homosexualität noch bis Mitte der 1990er Jahre unter Strafe. Es braucht viele Jahre, bis es in den Köpfen der Menschen angekommen ist, dass Homosexualität keine Straftat mehr ist, sondern bei uns in der Kultur und der Gesellschaft als etwas Normales wahrgenommen wird. Von daher geht es immer wieder darum, Menschen zum Nach- und Umdenken zu bringen.
Hoesch: Wenn die Menschen eines Tages bei Thomas Hitzlsperger als Erstes an den Menschen, den Manager, den Deutschen Meister als Fußballer, den Nationalspieler, den Sportexperten oder ähnliche Dinge denken und, dann haben wir viel erreicht. Ich glaube, der Mehrheit der Gesellschaft ist es schon jetzt im positiven Sinne egal, ob jemand homosexuell ist oder nicht.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 3. April 2024.