Kein Neubau der B1-Brücke zum BVB-Stadion Für Rollstuhlfahrerin Simone Stihl ist das „das Allerletzte“

Kein Neubau von B1-Brücke: Ein „totales Drama“
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„Das ist schon ein gewaltiges Ding“, sagt Simone Stihl. Sie steht vor der Brücke, die sich in einem steilen Bogen, über die B1 in Richtung der Westfalenhallen spannt. Aus der Perspektive der 53-Jährigen türmt sie sich noch etwas höher auf, denn Simone Stihl sitzt im Rollstuhl.

Am Griff des elektrisch betriebenen Gefährts baumelt ein schwarzgelber Schal. Simone Stihl ist glühende Anhängerin des BVB. Für ihre Vereinsliebe erklimmt sie Spieltag für Spieltag die Brücke über die B1. Es ist der Höhepunkt einer beschwerlichen Rollstuhl-Fahrt über Bordsteinkanten, Pflastersteine, zwischen Handwerkern hindurch und an Baustellen vorbei.

Rund 45 Minuten braucht Simone Stihl von ihrer Wohnung an der Von-der-Recke-Straße in der Nähe des Althoff-Blocks bis zum Stadion. Seit gut zwei Jahren besucht sie regelmäßig Spiele.

Wenig Rollstuhlplätze

Relativ spät sei sie BVB-Fan geworden, sagt die 53-Jährige, „aber dann mit großer Gewalt“. Jahrelang habe sie versucht, ins Stadion zu kommen. Aber es gebe eben nur 72 Rollstuhlplätze. Wie die Sportschau zuletzt berichtet hat, müssten es eigentlich 425 sein. Wie alle Vereine in der ersten und zweiten Bundesliga erfüllt auch der BVB die Vorgaben für Rollstuhlplätze nicht.

„Da braucht man Beziehungen, um ins Stadion zu kommen“, sagt Simone Stihl. Neben manchen Plätzen, die der BVB auch verlost, seien die meisten Rollstuhlfahrer-Karten Dauerkarten. Die 53-Jährige selbst hat keine, kommt aber über Bekannte, wenn die mal nicht können, regelmäßig ins Stadion. Wenn sie über das Erlebnis und den BVB spricht, gerät sie schnell ins Schwärmen. Fragt man sie allerdings nach der Brücke über die B1 zur Westfalenhalle, dann fehlen ihr die Worte.

Eigentlich hätte die Brücke zur Fußballeuropameisterschaft in diesem Sommer durch einen Neubau ersetzt werden sollen. Dann sind die Baukosten explodiert. Deshalb soll die Brücke nun saniert werden, wie in den vergangenen Tagen bekannt geworden ist. Wann, das ist hingegen völlig unklar.

„Was gibt das für ein Bild ab?“

„Ich kann da nur den Kopf schütteln. Das ist so eine wichtige Brücke für Menschen, die das Spiel besuchen wollen. Das ist das Allerletzte“, sagt Simone Stihl. „Erst recht vor der EM würde ich so eine Brücke doch neu machen. Was gibt das für ein Bild ab?

Über die Brücke in der Verlängerung der Lindemannstraße wird schon lange diskutiert. Fußgänger und Radfahrer quälen sich hinauf und wieder hinunter. Für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer ist sie alleine praktisch unpassierbar, wenn sie nicht wie Simone Stihl einen E-Rollstuhl haben. Bei anderen Rollstuhlfahrern sei das Problem mit der Brücke ebenso bekannt, sagt die 53-Jährige.

Das Bauwerk hat teils eine Steigung von circa zehn Prozent. Bevor Simone Stihl die Brücke anfährt, muss sie den Neigungswinkel ihrer Sitzfläche ändern, sonst würde sie beim Herunterfahren herausrutschen.

Sauerstoffmangel bei der Geburt

Die 53-Jährige könnte sich selbst nicht abfangen. Bei ihrer Geburt trat eine Sauerstoff-Unterversorgung auf. Die Folge ist eine spastische Tetraplegie, eine dauerhafte Muskelverkrampfung. „Durch die Fehlhaltung ist mein Körper so ausgeleiert, dass praktisch meine Gelenke ausrenken“, sagt Simone Stihl über eine Folgeerkrankung ihrer Behinderung. Sie trägt deshalb Schienen an den Beinen. „Es ist wie ein äußeres Skelett“.

Trotz vieler Barrieren auf dem Weg ist BVB-Fan Simone Stihl jedes Mal froh im und am Stadion zu sein.
Trotz vieler Barrieren auf dem Weg ist BVB-Fan Simone Stihl jedes Mal froh im und am Stadion zu sein. © Lukas Wittland

Auf dem Weg zum Stadion fährt sie deshalb konzentriert. Barrieren finden sich überall. Seien es die Löcher im Pflaster der Lindemannstraße oder der Gullydeckel, der direkt hinter der Absenkung des Bordsteins liegt. In diesen würde Simone Stihl mit den Rädern ihres E-Rollstuhls stecken bleiben. Viele Wege sind deshalb für die 53-Jährige festgelegt. Liegen dann E-Scooter im Weg oder Baustellen versperren den Weg, ist sie auf Hilfe angewiesen.

„Die steilste Brücke, die ich in Dortmund kenne“

„Fußgänger und Autofahrer regen sich ja teilweise schon über die Wege, Straßen und Baustellen auf, aber wenn sie mich mal begleiten, dann wird das ganze Drama erst recht klar“, sagt Simone Stihl. „Aber dass die Brücke nicht neu gemacht wird, ist natürlich ein totales Drama. Es ist die steilste Brücke, die ich in Dortmund kenne“, sagt Simone Stihl.

Sie hat sich damit arrangiert. Auf Alternativrouten sei noch mehr Verkehr. Außerdem ist es für sie der kürzeste Weg. „No Risk, no Fun“, sagt sie, lacht und steuert ihren E-Rollstuhl dann durch die Absperrung am Fuße der Brücke, wo es direkt zu Beginn besonders steil ist. „Das ist der schlimmste Punkt, man muss eine Kurve fahren und gleichzeitig die Kurve austarieren“, sagt die 53-Jährige.

Den Joystick, mit dem sie den E-Rollstuhl lenkt, greift sie dann besonders fest. Sie hat Sorge, dass er bei der Steigung zur Seite ausbricht. Wenn viele Menschen über die Brücke gehen, vibriert sie zusätzlich. Auch das macht das Fahren nicht leichter.

Frusttrationstolleranz notwendig

Simone Stihl ist keine Frau, die groß meckert. Man brauche als Rollstuhlfahrerin eine gewisse Frusttrationstolleranz im Straßenverkehr. „Sonst würde man nur mit Mundwinkeln herunter durch die Welt gehen“, sagt die 53-Jährige. Obwohl ihr der Regen am Freitagnachmittag unter die Brille läuft, lehnt sie einen Alternativtermin für ein Treffen ab.

Die BVB-Fans würden schon Rücksicht nehmen und Hilfe anbieten, sagt Simone Stihl, aber viele würden sie auch übersehen, dadurch, dass sie tiefer sitzt. Es sei keine böse Absicht. In der Nähe des Stadions, wo das Gewühl groß wird, fährt sie deshalb aber ihren Sitz weit nach oben und schalte das Warnblinklicht ein, damit sie besser gesehen wird. Um Sichtbarkeit geht es aber auch darüber hinaus.

Die 53-Jährige möchte die Perspektive von Menschen mit Behinderung teilen. Und dass die Brücke über die B1 auf absehbare Zeit nicht für alle überquerbar wird, ist nur ein offensichtliches Symbol dafür, dass in Sachen Barrierefreiheit noch viel Luft nach oben ist.