Julian Nagelsmann geht ein großes Risiko ein Der Erfolg gibt ihm bisher recht

Julian Nagelsmann geht ein großes Risiko ein
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Die Besten müssen für Deutschland spielen, das war über Jahrzehnte das Erfolgsrezept und gipfelte in vier Welt- und drei Europameistertitel für die Fußball-Nationalmannschaft. Wenn es mal nicht lief, waren die Besten eben nicht gut genug. Julian Nagelsmann aber, spätestens seit dem furiosen 5:1 im ersten Gruppenspiel gegen Schottland der Bundestrainer, dem ganz Deutschland zu Füßen liegt, ist vor der Heim-EM ganz bewusst einem anderen Credo gefolgt: Es müssen die dabei sein und spielen, die am besten für die Gruppe sind.

Deutsche Nationalmannschaft überzeugt bisher

Nagelsmanns Kader-Zusammenstellung war nicht ohne Wagnis, das Rezept aber schmeckte zumindest beim ersten Gang. Der Mix aus fußballerischer Extraklasse, aktueller Form und Teamgeist hat mit dem ersten Auftaktsieg bei einem großen Turnier seit acht Jahren die EM-Stimmung im Land angezündet. Selten hat man eine deutsche Mannschaft so aus einem Guss spielen sehen, selten so entschlossen, mannschaftsdienlich und uneigennützig.

Wer es nicht gerade mit den Schotten hielt, ging am Freitagabend euphorisch aus dem Münchner Stadion, auf den Fanfesten und Public Viewings im Land war der Schlusspfiff nach einem berauschenden ersten Spiel der Startschuss für eine lange Partynacht.

Toni Kross mit dem fast perfekten Spiel

Die deutschen Nationalspieler hielten bewusst mit Realismus dagegen. Bloß nicht zu viel Lob nach nur einem Spiel und gegen einen Gegner, der 60 Minuten in Unterzahl spielen musste. „Ob wir in einen Flow kommen, kann man nach einem Spiel nicht sagen“, meinte Toni Kroos, der im zentralen Mittelfeld die Bälle einmal mehr magnetisch anzog. Kroos brachte 101 seiner 102 Pässe an den Mann, noch nie seit Beginn der statischen Erhebung von Spieldaten war das einem Spieler gelungen. In einer durchweg auf hohem Niveau agierenden deutschen Mannschaft war Kroos nur ein Puzzlestück für den ungefährdeten Start-Ziel-Sieg gegen ein allerdings schon vor der Roten Karte gegen Ryan Porteous (30.) überfordertes Schottland.

Am Ende war der klare Sieg auch eine Bestätigung für den eingeschlagenen Kurs des Bundestrainers. Nagelsmanns radikale Kehrtwende nach den desaströsen November-Testspielen hatte für Aufsehen gesorgt und bei den März-Länderspielsiegen gegen Frankreich und die Niederlande eine erste Bestätigung erhalten. Die erste richtige Prüfung stand nun im ersten EM-Pflichtspiel an, sein Kader bestand die Feuertaufe mit Bravour.

Julian Nagelsmann mit vielen kleinen Kniffen.

Viele kleine Kniffe haben am Ende zu diesem Erfolg beigetragen. Auch der letzte, die Nachnominierung von Borussia Dortmunds Kapitän Emre Can, ging auf, als der Dortmunder in der Nachspielzeit mit einem überlegten Schlenzer ins lange Eck zum Endstand traf. Nicht einer der Härtefälle wie Leon Goretzka bekam am vergangenen Mittwoch den Anruf des Bundestrainers. Er rief Can an, der zwar auch enttäuscht war über seine vorherige Nicht-Nominierung, bei dem Nagelsmann aber von seiner Loyalität zur Gruppe überzeugt sein konnte.

Wie Nagelsmann auf den Ausfall von Münchens Super-Talent Alexsandar Pavlovic reagierte, das stand stellvertretend für einen komplett anderen Ansatz des 36-Jährigen im Vergleich zu früheren Trainern. Julian Nagelsmann mixte individuelle Klasse (Gündogan, Kroos, Musiala, Wirtz) mit Spielern, deren Qualität es auch in ihren Vereinen ist, jederzeit unbedingten Einsatz fürs Team zu geben (Andrich, Mittelstädt).

Ein neuer Geist im deutschen Team

„Form statt Klasse“ war ein weiteres Nominierungskriterium, kein Zufall, dass im aktuellen DFB-Kader Spieler aus Stuttgart und Leverkusen stark vertreten sind.

Auch Nagelsmanns größtes Wagnis scheint belohnt zu werden. Mit seinen Einzelgesprächen über ihre Rolle im Team führte, musste der Bundestrainer gerade bei denjenigen, die sich selbst eher als Stammkräfte sehen, aber aktuell dennoch nicht zur Startelf zählen, Überzeugungsarbeit leisten. Dennoch fügen sich auch Spieler wie ein Leroy Sané oder Dortmunds Niclas Füllkrug aktuell gewinnbringend ein. Dass alle Bankspieler auch nach dem vierten und fünften Tor jubelnd aufsprangen, sagt viel aus über den neuen Geist im Team.

Mit einem Sieg am Mittwoch im zweiten Gruppenspiel in Stuttgart gegen Ungarn (21 Uhr, ARD und Magenta TV) kann Deutschland das Achtelfinale frühzeitig perfekt machen. Er würde die EM-Begeisterung im Land weiter anheizen. Das erste Kapitel des Sommermärchens 2.0 ist geschrieben. Weitere sollen folgen.