„Fax-Affäre“ besiegelt endgültiges Ende einer BVB-Ära Niebaum-Rücktritt heute vor 20 Jahren

Von Thomas Hennecke
BVB-Zeitenwende beginnt mit einem Skandal: Niebaum-Rücktritt heute vor 20 Jahren
Lesezeit

Ziemlich genau um 12 Uhr mittags steigt Dr. Reinhard Rauball das erste Mal auf die Bühne. Er erhält die Silberne Ehrennadel für 25 Jahre Mitgliedschaft. Vier Stunden später, die Uhr zeigt mittlerweile 16.05 Uhr, federt er an diesem 14. November 2004 die acht Stufen zum Podium erneut hoch – als frischgebackener Präsident von Borussia Dortmund. Vorher hat Dr. Gerd Niebaum seinen Rücktritt erklärt, auf den Tag genau vor 20 Jahren.

BVB-Existenz hängt am seidenen Faden

Im Herbst 2004 liegt Borussia Dortmund am Boden. Noch nicht am Boden zerstört, aber kurz davor. Die Existenz des Traditionsklubs hängt nach jahrelanger Misswirtschaft am seidenen Faden. Die Geschäftsführung mit Präsident Dr. Gerd Niebaum an der Spitze und Manager Michael Meier hat Horror-Zahlen bekanntgeben müssen: ein Saison-Minus von 67,7 Millionen Euro und 118,8 Millionen Euro Gesamtverbindlichkeiten (was bei einer Bruttokonzerngesamtleistung von 609 Millionen Euro heute 725 Millionen Euro Schulden entsprechen würde).

Die Volksseele kocht. Für seine Mitgliederversammlung befürchtet der BVB einen Aufstand der Basis und mietet die große Westfalenhalle an. Doch der erwartete Andrang bleibt aus: 1745 stimmberechtigte Borussen füllen die Arena nur leidlich. Sie erleben einen Tag der Abrechnung, einen Tag der Tränen. Es wird ein Spießrutenlauf für Niebaum und Meier. Für fünfeinhalb Stunden müssen sie sich wie in der Hölle fühlen.

Hermann Heinemann, der ehemalige NRW-Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales (SPD), liest den Bossen die Leviten. „Sie können hier und heute nicht eine zweite Chance einfordern“, sagt er in schneidendem Ton, „die hatten sie bereits – mit dem Geld aus dem Börsengang.“ Die 130 Millionen Euro, die Borussia Dortmund im Oktober 2000 einnahm und schon damals in Teilen zur Rückführung von Schulden einsetzen musste: verbrannt, bis auf den letzten Cent. Er habe viel erlebt, fügt Heinemann ungnädig hinzu, aber nie, „dass jemand, der einen Betrieb an die Wand gefahren hat, auch den Neuaufbau einleiten soll.“

Presse entlarvt BVB-Präsident als Lügner

Monatelang wehrt sich Niebaum dagegen, dass kicker, Süddeutsche Zeitung und auch Enthüllungen dieser Zeitung scheibchenweise ans Licht bringen, wie schlecht es um die Borussia steht. Seine Dementiermaschine läuft heiß – bis er in der „Fax-Affäre“ als Lügner entlarvt wird: Für seine Zusage, bei einer Kapitalerhöhung im Herbst 2004 80 Prozent der neuen Aktien im Gegenwert von 20 Millionen Euro zu kaufen, hat Florian Homm, Hedge-Fonds-Manager und Börsenhai mit zweifelhaftem Ruf, Macht und Einfluss verlangt: zwei seiner Leute im Aufsichtsrat, drei im Beirat. Außerdem hat er mit Niebaum vereinbart, dass dieser 2006 als Geschäftsführer abtreten soll.

Florian Homm blickt geradeaus.
Börsenhai mit zweifelhaftem Ruf: Florian Homm. © picture-alliance / dpa/dpaweb

Als die Öffentlichkeit davon Wind bekommt, diffamiert Niebaum die Journalisten, die er zuvor schon als „Zerstörer“ gebrandmarkt hatte, als Fälscher. Er leugnet, redet sich um Kopf und Kragen, spricht von einem „üblen Scherz“, versichert, dass er eine solche Vereinbarung nie unterschrieben habe und sein Rücktritt mit keinem Wort behandelt worden sei. Dann belegt das von kicker und SZ enthüllte Originalpapier das Gegenteil. Niebaum hat gelogen. Drei Tage später am 17. Oktober 2004 kündigt er seinen Rücktritt als Präsident an, am 14. November quittiert er den Dienst schließlich, nach 18 Jahren Amtszeit. Als Vorsitzender der Geschäftsführung bleibt er noch knapp drei Monate im Amt.

Emotionale BVB-Abschiedsrede

Bei seiner Abschiedsrede in der Westfalenhalle wirkt Niebaum tief bewegt. Seinen Rücktritt verkauft er als „Beitrag für Hygiene und Kultur“, immerhin übernimmt er die Verantwortung für die „belastende und beunruhigende“ Entwicklung von Borussia Dortmund und gesteht seine fatale „Das-kriegen-wir-schon-irgendwie-hin-Grundhaltung“ ein. Am Mikrofon spielt Niebaum seine ganzen Stärken aus. Seine Rede steckt voller Pathos und Emotionen, er weicht die anfangs harte Front der Ablehnung auf, streichelt die Seelen seiner Zuhörer: Borussia sei „ein Stück Lebensqualität und Lebensgefühl“.

Am Ende erheben sich viele Mitglieder – auch ein paar von denen, die vorher mit Buh-Rufen ihrem Zorn ein Ventil verliehen hatten – von ihren Sitzen und klatschen Beifall. Frank und Sascha Fligge haben diesen Moment in ihrem Buch „Die Akte Schwarzgelb“ so beschrieben: „Für einen Präsidenten, der 18 Jahre im Amt war, DFB-Pokal, drei Meisterschaften, Champions League und Weltpokal gewonnen hat, enden die Ovationen viel zu schnell.“

BVB liegt wirtschaftlich am Boden

Mit 823 Ja- und 442 Nein-Stimmen werden Niebaum und Meier von der Mitgliederversammlung entlastet. Wie ein Anachronismus wirkt auf viele Besucher, dass während der Auszählung ein Film über die Erfolge in Niebaums Amtszeit über die Hallen-Leinwand flimmert. Was das Herz kurz wärmt, steht im krassen Gegensatz zur traurigen Wirklichkeit: In der Kasse herrscht Schwindsucht, und selbst das Punktekonto verheißt nichts Gutes. Borussia Dortmund nähert sich dem Souterrain der Liga an – nur in Kaiserslautern, Bochum, Freiburg und Rostock fällt die tabellarische Zwischenbilanz am 14. November 2004 noch trister aus.

Gerd Niebaum wirft einen Blick in Akten.
Lediglich zwei Drittel der BVB-Mitglieder entlasten Gerd Niebaum und Michael Meier bei der Mitgliederversammlung am 14. November 2004. © picture alliance / dpa

Mit 20 Jahren Abstand plädieren ehemalige Weggefährten Niebaums für eine differenzierte Bewertung seines Schaffens. „Niebaum hat viele sehr mutige Entscheidungen getroffen und zu Beginn seiner Zeit auch sehr viele richtige“, meint der frühere Kapitän Stefan Reuter. „Aber wenn du ein Macher bist und Entscheidungen triffst, besteht die Gefahr, dass du überziehst. In den letzten Jahren als Präsident hat er phasenweise ein zu hohes Risiko gewählt.“

Zuspruch von Ex-BVB-Profis

Heiko Herrlich, der 1995 als Bundesliga-Torschützenkönig nach Dortmund wechselte, registrierte sehr wohl, dass die Borussia die Flucht nach vorn mit beträchtlichem Aufwand und einem halsbrecherischen Risiko antrat. Trotzdem fragt er sich, wo Dortmund heute stünde, wenn Niebaum nicht so groß gedacht hätte. „Vielleicht“, meint Herrlich, „vielleicht wäre der BVB heute ein Verein wie Rot-Weiß Essen und hätte etwas weniger auf dem Briefbogen stehen.“

Als Niebaum Geschichte ist und Rauball ganz am Anfang seiner dritten Amtsperiode (nach 1979 bis 1982 und 1984 bis 1986) steht, prophezeien die beiden Buchautoren Frank und Sascha Fligge dem neuen Präsidenten einen dornenreichen Weg: „Rauball weiß, dass er nicht wie Niebaum als Titelsammler in die Klubgeschichte eingehen wird.“

Ex-BVB-Präsident bleibt auf Abstand zum Verein

Das war zu dieser Zeit die einzige plausible Ableitung aus der wirtschaftlich hoch gefährlichen und sportlich brisanten Situation. Rauball werde am Ende „keine drei Meisterschaften gewonnen, aber möglicherweise etwas weit Wertvolleres geleistet haben.“ Bis zum Ende seiner Amtszeit im November 2022 konnte Rauball 2011 und 2012 zwei Meisterschaften feiern, gewann drei Mal den Pokal (2012, 2017, 2021) und verdiente sich als Retter von Borussia Dortmund einen Ehrenplatz in der Vereinschronik. Ehrenpräsident wurde er zudem.

Reinhard Rauball und Hans-Joachim Watzke lächeln in eine Kamera.
Sie wagen mit dem BVB den Neustart: Reinhard Rauball (links) und Hans-Joachim Watzke. © picture-alliance/ dpa/dpaweb

Niebaum kam noch zur Hundertjahrfeier des Klubs (2009), bleibt aber anders als der regelmäßige Stadiongast Michael Meier seitdem auf Abstand zum Klub und schlug auch eine Einladung zum diesjährigen Champions-League-Finale in London gegen Real Madrid aus. Das findet Stefan Reuter außerordentlich schade: „Ich hätte ihm gewünscht, dass er mit Borussia Dortmund und den Verantwortlichen seinen Frieden schließt.“

Von der Ära Niebaum profitiere der Verein ungeachtet aller Fehlentscheidungen noch heute, argumentiert Heiko Herrlich. Sein Schlusswort: „Zur Erfolgsgeschichte von Borussia Dortmund gehört, was Niebaum mit seinem Mut geschaffen hat. Das verdient Respekt. Er war aber auch Hauptverantwortlicher des wirtschaftlichen Niedergangs. Irgendwann hat er zu viel gewagt.“