Der Kanzler hatte genug gesehen und rauschte direkt nach Spielschluss mit der gewohnt üppigen Eskorte aus schweren, schwarzen Limousinen wieder ab. Im Auto dürfte sich Olaf Scholz auch darüber gefreut haben, dass die deutsche Nationalmannschaft drauf und dran ist, einem in Pessimismus versunkenen und permanenter Nörgelei feststeckenden Land das Lachen zurückgebracht zu haben.
Deutschland-Fans singen schon vom Finale
Zweites EM-Spiel, zweiter Sieg, erneut durfte gefeiert, gejubelt und viel getanzt werden auf den Rängen und auf den Fan-Festen. Etwas verfrüht vielleicht sangen die deutschen Anhänger in Stuttgart nach dem hart erarbeiteten 2:0 gegen starke Ungarn schon vom Finale in Berlin. Aber wer will es ihnen verdenken? Im Idealfall kann der Sport ablenken vom Alltag, diesen Auftrag nahm sich die deutsche Mannschaft auch in Stuttgart zu Herzen.
Die EM hat so richtig Fahrt aufgenommen, mit etlichen schönen Spielen und erstaunlich vielen Toren. Mittendrin mischt eine deutsche Mannschaft kräftig mit, bei der im zweiten Gruppenspiel längst nicht alles perfekt lief – die aber mit ihrer geschlossenen Art, viel Einsatz auf dem Feld und auch einigen spielerischen Schmankerln genau die Mischung verkörpert, die Fußball-Deutschland über Jahre vermisst hat.
War es nach dem Auftaktsieg in München ob der Einseitigkeit des Spiels noch ein wenig überzogen, ihr direkt das Favoritenkleid anzuziehen, lässt sich das nach dem zweiten Erfolg kaum noch vermeiden. Der war nicht im Hurra-Stil herausgespielt, er setzte Widerstandskraft und Unnachgiebigkeit voraus. Zwei Attribute, die es vor gar nicht allzu langer Zeit so nicht gab im deutschen Team. Blickt man in die anderen Gruppen, reift die Erkenntnis: Deutlich stärkere Teams als das deutsche hat man im bisherigen Turnierverlauf noch nicht gesehen.
DFB-Elf trotzt Widerständen
Dass die Ungarn einige Wackler in Julian Nagelsmanns Defensive provozierten, war dem Bundestrainer gar nicht so Unrecht. Auch Ilkay Gündogan sprach nach dem Spiel davon, wie wichtig es im Turnierverlauf sein kann, Gegnerdruck zu verspüren und einen Plan B entwickeln zu müssen, wenn Plan A nicht funktioniert. Das überdeutliche 5:1 gegen die Schotten hatten alle im DFB-Tross realistisch eingeordnet, die Ungarn waren wie erwartet ein Gegner mit mehr Struktur, einem guten Plan und individueller Qualität.

Was in den Phasen, als die DFB-Elf Glück und einen starken Manuel Neuer besonders brauchte, auffiel: Die deutsche Elf verlor nicht ihre Ordnung, sie geriet nicht in Panik. Auch das ist ein Qualitätsmerkmal.
Gündogan schwärmt von „überragender Harmonie“
Kurz vor dem Anpfiff spielte die Stadion-Regie einen Song des Berliner Rappers Kontra K, den die Spieler als ihren inoffiziellen Turniersong auserkoren haben. „Erfolg ist kein Glück, sondern das Ergebnis von Schweiß, Blut und Tränen“, singt der Rapper da. Ein Motto, dass die DFB-Elf nach vielen Irrwegen bei diesem Turnier besonders intensiv beherzigt. Auch Kapitän Gündogan lobte die „überragende Harmonie“ im Team, der Bundestrainer schwärmte besonders von den Sekunden nach Manuel Neuers Weltklasse-Parade beim Freistoß von Dominik Szoboszlai. Da stürmten gleich drei deutsche Spieler auf ihren Torwart zu und feierten Neuers Glanztat.
Szenen wie diese machen auch Nagelsmann zu einem der großen Gewinner dieser ersten Turnierwoche und der wundersamen Entwicklung. Er hat dieser Mannschaft in den wenigen gemeinsamen Trainingseinheiten ab März nicht nur eine klare Struktur und Philosophie eingeimpft, mit klaren Rollenbildern und Aufgaben. Er hat sie vor allem dahin geformt: als Mannschaft aufzutreten, für den anderen einzustehen, ihn bedingungslos zu unterstützen.
Das ist ein unschätzbar hohes Gut, freilich noch nicht die alleinige Garantie, dass der deutsche Weg tatsächlich erst am 14. Juli in Berlin endet. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings höher, als wenn sich der deutsche Fußball nur auf die Qualität von 26 Einzelspielern verlassen müsste.