
Zahlreiche Spieler werden den BVB im Sommer verlassen. © imago / RHR-Foto
Der Startschuss für eine neue BVB-Zeitrechnung muss von der Mannschaft kommen
Meinung
Borussia Dortmund steht vor einem massiven personellen Umbruch. Der Startschuss für eine neue BVB-Zeitrechnung muss von der Mannschaft kommen. Daran wird auch Marco Rose gemessen.
Michael Zorc gebührte am letzten Tag in verantwortlicher Position das Schlusswort, und der scheidende Sportdirektor fasste die Saison seiner Borussia treffend in einem einzigen Satz zusammen. Die 90 Minuten gegen die Hertha, meinte der 59-Jährige, seien ein Spiegelbild der gesamten Saison gewesen. Niemand mochte widersprechen.
BVB-Trainer Marco Rose hat mich zahlreichen Problemen zu kämpfen
Was bleibt von dieser Spielzeit, der ersten von Marco Rose, den man mit viel Überzeugungskraft und auch reichlich finanziellem Aufwand vom Niederrhein ins Ruhrgebiet gelockt hatte? Vor allem die Erkenntnis, dass sich Sport nicht bis ins Detail planen lässt. Rose startete mit reichlich Problemen, die ihm während der gesamten elf Monate immer ein zunehmend nerviger Begleiter waren.
Verletzungsprobleme, das ist eines der Stichworte bei einem Saison-Fazit, das die Borussia nach Ende der Spiele immer ziehe. Die Analyse, die Ende der kommenden Woche erfolgt, wird keine allzu überraschenden Erkenntnisse mehr bringen. Die Probleme, die es gab, traten früh an die Oberfläche – und sie ließen sich im laufenden Betrieb nur in Ansätzen korrigieren.
Reyna und Moukoko erleben eine BVB-Saison zum Vergessen
Warum sich so viele Spieler, zum Teil wiederholt, mit ähnlichen und zum Teil langwierigen Verletzungen herumplagen mussten, ist ein Rätsel, das aufgearbeitet werden muss. Nicht nur für Giovanni Reyna war es eine verlorene Saison, auch Youssoufa Moukokos Entwicklung erfuhr eine erste Delle, was nicht ungewöhnlich ist für einen 17-Jährigen. Doch es ist schade, dass es keine normalen Schwankungen waren, sondern ihn Verletzungen immer wieder aus dem Rhythmus brachten. Auch Erling Haalands Ausfallzeiten waren viel zu hoch. Indizien in einem großen Puzzle mit vielen Teilen.
Auch aufgrund dieser Thematik gelang es nicht, so etwas wie Konstanz in die eigenen Leistungen zu bekommen. Von 45 Pflichtspielen wurden 15 verloren, also jedes dritte. Das ist eine unschöne Regelmäßigkeit, die nicht nur in den Pokalwettbewerben für ein ernüchterndes Fazit sorgen. Das Ausscheiden in der Champions League und das sang- und klanglose in den beiden Duellen in der Europa League gegen die Glasgow Rangers bezeichneten die Verantwortungsträger unisono als „blamabel“. Schmerzhaft war auch das frühe Pokal-Aus auf der Reeperbahn. Der Traum von der Titelverteidigung platzte in Runde drei, obwohl der Weg nach Berlin nach dem noch früheren Aus der Bayern geebnet schien.
Dem BVB gelingt in der Bundesliga eine respektable Ausbeute
Womit der Sprung zur Bundesliga naheliegt. 69 Punkte sind es am Ende geworden, das ist respektabel, 85 Tore zeugen von einer ungebremsten Lust auf Offensive. Rose kann diese Statistiken auf seine Positiv-Liste packen, dennoch stellte sich im Klub in Bezug auf die Bundesliga-Saison keine absolute Zufriedenheit ein. Eher herrschte das Gefühl vor, eine weitere Chance verpasst zu haben. Sicher, es hätte einer überragenden Liga-Performance bedurft, um die Bayern endlich vom Thron zu stoßen und ihren zehnten Titel in Serie zu verhindern. Aber das war allen vorher bewusst – und die Chance war durchaus da.
Zu viele Niederlagen habe es im Alltagsgeschäft gegeben, räumte auch Rose ein, im November und Dezember gab es die schon aus der Vergangenheit bekannten Probleme, dort handelte sich der BVB den Rückstand ein, der auch am Saisonende in der Tabelle steht. Niederlagen in der Hauptstadt beim Kellerkind Hertha, das Remis in Bochum, dazu die Pleiten in den direkten Duellen gegen Bayern und Leipzig sorgten für eine negative Grundstimmung, die sich auch in der Rückrunde nicht nachhaltig verbesserte, weil immer wieder neue Rückschläge auftraten, nach denen Rose nicht nur über ungelöste Defensivprobleme (viel zu viele Gegentore!) und zunehmend über die, wie er es nennt, „Haltung“ in schwierigen Spielsituationen diskutieren musste. Immer wieder blitzte auf, was hätte möglich sein können mit diesem Kader. Nur gelang es nicht, diese Leistungen auf einem hohen Niveau zu stabilisieren.
BVB-Neuzugänge wecken Vorfreude auf die neue Spielzeit
Der zweiten Platz war am Ende ungefährdet, das Abschneiden in der Bundesliga ist unter den schwierigen Voraussetzungen respektabel. Man müsse, auch das ist ein richtiger Satz von Michael Zorc, auch einmal davon wegkommen, den Wert der Vizemeisterschaft so kleinzureden.
Dennoch reifte spätestens im Winter die Erkenntnis, dass größere Veränderungen im Kader herbeigeführt werden müssen. Frisches Blut, mehr Wert auf Grundtugenden wie Zweikampfstärke und Bereitschaft zu harter Arbeit, die dem schönen Spiel vorangestellt werden müssen. Spieler, die sich voll mit den Werten der Borussia identifizieren. Das ist der Plan, den der neue Sportdirektor Sebastian Kehl schon mit Leben gefüllt hat. Die drei schon bekannten Neuverpflichtungen wecken Fantasien und schon jetzt die Vorfreude auf die neue Spielzeit, weitere werden kommen. Sieben Spieler wurden am Samstag verabschiedet, auch da ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht.
Borussia Dortmund will sich in der Saison 22/23 neu erfinden
Am Ende könnte ein Dutzend Spieler den Klub verlassen, das allein spricht schon dafür, wie groß der Bedarf an Veränderung auch im Klub gesehen wird. Borussia Dortmund will sich neu erfinden, zurückfinden zu alten Tugenden und Werten. Die Fans sind wohl nirgends so leicht auf die eigene Seite zu ziehen wie in Dortmund, sie verzeihen und geben Rückhalt, das deutete schon das Spiel am Samstag an, in dem der Support in der zweiten Hälfte Erinnerungen weckte an Vor-Coronazeiten.
Da kann sich sehr schnell eine neue Symbiose entwickeln, die Anhänger warten quasi nur auf den Startschuss. Der muss von der neuen Mannschaft kommen, geführt von einem Trainer, der darauf brennen wird zu zeigen, was in ihm steckt. Für Rose war es ein sehr undankbarer Start, der schon wieder Zweifel weckte, ob da der richtige Mann an der Seitenlinie steht.
Für BVB-Sportdirektor Kehl beginnt die Arbeit jetzt erst richtig
Auch ihm ist nicht alles geglückt. Oft musste er seine Taktik innerhalb des Spiels korrigieren, seine bisweilen sehr späten Wechsel sorgten für Irritationen. Rose muss zugutegehalten werden, dass er selten das Personal zur Verfügung hatte, mit dem er seine Ideen hätte konsequenter umsetzen können. Das wird sich nach der Sommerpause hoffentlich anders darstellen. Und dann wird auch Rose daran gemessen werden, was er aus dem neuen Kader, der dann weitgehend seinen Vorstellungen entsprechen wird, macht.

Steht vor arbeitsreichen Wochen: BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl. © imago / RHR-Foto
Für Kehl, den neuen starken Mann, beginnt nach Saisonschluss die Arbeit erst so richtig. Die Spieler, die man unbedingt holen wollte, hat man bislang bekommen. Aber das war nur der erste Teil der Arbeit. Ein Sechser, ein Stürmer, ein linker Außenbahnspieler für die Defensive – das sind nur die dringlichsten Baustellen. Vor allem wird Kehl Geschick benötigen, um auf der Abgabeseite noch einiges zu bewerkstelligen. Er muss Ablösen generieren, um die verbliebenen Problemstellen mit gutem Personal zu besetzen. Eine Pause gibt es für Kehl erst einmal nicht.
Dirk Krampe, Jahrgang 1965, war als Außenverteidiger ähnlich schnell wie Achraf Hakimi. Leider kamen seine Flanken nicht annähernd so präzise. Heute nicht mehr persönlich am Ball, dafür viel mit dem Crossbike unterwegs. Schreibt seit 1991 für Lensing Media, seit 2008 über Borussia Dortmund.
