Seit einem halben Jahr ist Thomas Broich Vater. Normalerweise schlafe seine Tochter ganz ruhig. In den letzten beiden Nächten aber sei sie plötzlich um 4 Uhr nachts wach geworden. An Schlaf war nicht mehr zu denken. „Ich fühle mich heute, als wäre ein LKW über mich drüber gefahren“, sagt der 43-Jährige im Gespräch mit den Ruhr Nachrichten. Sein Baby und dabei gleichzeitig seinen neuen Arbeitgeber, Borussia Dortmund, kennenzulernen, sei krass. Seit Juli ist Broich neuer Sportlicher Leiter des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) beim BVB.
BVB-NLZ-Chef Broich sucht den nächsten Lars Ricken
Er hätte demnach allen Grund für Augenringe. Aber seine Augen, sie leuchten an diesem trüben und verregneten Oktober-Nachmittag. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Broich redet über Fußball. Das ist sein Thema, ach was, es ist viel, viel mehr als das. Der Fußball ist für ihn Leidenschaft, Lebensinhalt. Broich inhaliert ihn. Sein Geist arbeitet permanent. Taktik, Athletik, Datenanalyse, Sportpsychologie – er durchdenkt den Fußball in all seinen Facetten.
Es sind intensive erste Wochen in Dortmund. Zu Beginn lebt er mit Frau und Kind bei den Schwiegereltern im Sauerland. Seit einigen Wochen in einer auf Airbnb angemieteten Wohnung. Im November folgt nun endlich der Umzug ins eigene Haus in Dortmund. Seit Wochen pendelt er quasi ausschließlich zwischen Wohnung und dem Trainingsgelände in Brackel. Er habe einige Zeit gebraucht, um sich „einzugrooven“, den neuen Klub, seine Strukturen und Protagonisten kennenzulernen. Mit den handelnden Personen ins Gespräch zu kommen. Jetzt, sagt Thomas Broich, beginne dieser Organismus allmählich zu leben und zu arbeiten.
Als Leiter des BVB-NLZ ist sein vorrangiges Ziel klar definiert: „Es geht darum, so jemanden wie den nächsten Lars Ricken zu finden und auszubilden. Eine Identifikationsfigur, jemanden aus der eigenen Region, der den ganzen Weg geht. Der wirklich von den Kleinen an von uns so ausgebildet wird, dass er am Ende bei uns Champions-League-Stammspieler ist.“ Das sei, sagt Broich, natürlich ein großes Ziel. „Aber das muss es am Ende auch sein. Ich bin froh um jeden, der irgendwo anders Bundesliga-Minuten sammelt. Aber wir sind jeden Tag hier, um unsere Jungs in unser Stadion zu bringen. Und das nicht als Ergänzungsspieler, sondern im besten Fall als Leistungsträger“, betont der 43-Jährige.
Postecoglu als Mentor
Broich ist jemand, der in Lösungen denkt, nicht in Problemen. In Chancen, nicht in Risiken. Wo andere das Hindernis sehen, sieht er die Lücke. Sein Wesen ist darauf ausgelegt, Dinge für möglich zu halten. Diese Sichtweise hat er von Ange Postecoglu, dem heutigen Trainer von Tottenham Hotspur. Beide arbeiteten während Broichs Zeit in Australien zwei Jahre zusammen. Eine prägende Begegnung, aber dazu später mehr.

Für Postecoglu gebe es kein Scheitern. Es gebe Fehler, ein Daraus-Lernen und ein Weitermachen. Ein Mantra, das Broich zur Grundlage seines eigenen Denkens und Handelns gemacht hat. Und genau auf diese Weise geht er seine Arbeit als Sportlicher Leiter des NLZ in Dortmund an.
BVB-Jugendspieler sollen besseres Skillset erhalten
Im Kern geht es darum, den Jugendspielern die einfachen Lösungen zu nehmen. „Wir möchten Spieler noch mehr im Druck ausbilden, das ist immer der zugrundeliegende Gedanke. Je mehr Druck ich am Ball erfahre, desto besser muss ich am Ball werden“, erläutert Broich. Heißt: Beide Füße, alle Flächen. Die Spieler sollen beidfüßig(er) werden, dazu im Training oder auch im Spiel bewusst fußverkehrt oder auf der für sie „falschen“ Seite spielen. Und sie sollen den Ball zum Beispiel nicht nur mit der Innenseite annehmen, sondern auch mit Außenrist oder Sohle.
„Wir wollen den Spielern mit auf den Weg geben, dass Fehler zu machen nicht nur okay, sondern wichtig und leistungsfördernd ist. Denn da, wo Dinge nicht klappen, findet Lernen statt.“ Sind Spieler in ihrer Altersklasse unterfordert, werden sie in die nächsthöhere befördert, wo sie auf andere Widerstände stoßen. „Unter Druck entstehen Diamanten“, sagt Thomas Broich. Auf diese Weise sollen die schwarzgelben Talente im Laufe ihrer Ausbildung über ein besseres Skillset verfügen und damit langfristig über bessere Chancen, um tatsächlich den Sprung zu den BVB-Profis zu schaffen.
„Strike“ als Krönung eines BVB-Treffers
Es ist ein Verständnis vom Fußball, eine gemeinsame Identität, die der Sportliche Leiter gesamtübergreifend von der U9 bis zur U19 im BVB-NLZ etablieren möchte. Das erste Zwischenfazit nach dreieinhalb Monaten fällt positiv aus: „Es geht darum, noch gepflegter, noch komplexer und damit auch riskanter Fußball zu spielen. Ich habe mich drauf eingestellt, dass es ein längerer Prozess werden würde. Ich bin ehrlich gesagt total beeindruckt davon, wie es aktuell schon aussieht.“

Als wichtiger Referenzpunkt für die Fortschritte im NLZ gilt der „Strike“. So bezeichnen sie beim BVB einen Treffer, den sie erzielen, ohne dass der Gegner auch nur eine kontrollierte Verteidigungsaktion hat. Quasi ein Start-Ziel-Tor, ohne jeglichen gegnerischen Einfluss oder Zugriff. Für Broich ist es die Krönung, weil sie die Überlegenheit des eigenen Ansatzes demonstriert. „Im Fußball fallen alle Arten von Tore und wichtig ist auch, dass wir niemals ein Tor geringschätzen. Aber für uns ist der Strike der Gradmesser, das Spiegelbild unserer wahren Leistungsfähigkeit, weil es das komplexeste Tor ist“, erläutert der 43-Jährige.
BVB-Trainer haben gemeinsame WhatsApp-Gruppe
Bei seiner vorherigen Station, Hertha BSC, sei der Strike eher die Ausnahme gewesen. Beim BVB jedoch gelinge so ein Treffer regelmäßig, schwärmt Broich. Fast an jedem Wochenende posten Trainer und Verantwortliche Video-Sequenzen erfolgreicher Strikes ihres Teams in eine gemeinsame WhatsApp-Gruppe. Broich schätzt die Wirkmacht von Bildern. Schaut her, wieder ein Strike. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wobei es aus Sicht des Sportlichen Leiters eben nicht den einen Weg zum Ziel gibt.
„Ich lasse meine Idee einfließen. So haben wir etwas Gemeinsames und eine Vergleichbarkeit, einen Kompass. Und das ist alles andere als perfekt. Wir wissen, dass es bearbeitet werden muss und ich lade jeden dazu ein, das zu tun. Es werden ganze Kapitel in dieser Konzeption anders gedacht. Wir haben jetzt so viele Augenpaare, die auf das Gleiche gucken, so viele Gehirne, die das Gleiche durchdenken. Das erzeugt ganz viel Input und neue Ideen“, setzt Broich ganz bewusst auf eine gegenseitige Wechselwirkung. Er sieht das so: Er liefert den Rahmen, innerhalb dessen Trainer und Spieler sich austoben können.
BVB-Strategie nicht auf das nächste Ergebnis ausgerichtet
Es geht darum, neugierig zu sein, sich in erster Linie mit dem Weg zu beschäftigen und dann erst mit dem Ziel. Process over product – (auch) diesen Grundsatz hat er von seinem ehemaligen Trainer Ange Postecoglu. Beide begegneten sich 2010 bei Brisbane Roar, wohin es Broich nach wenig zufriedenstellenden Stationen bei Borussia Mönchengladbach, dem 1. FC Köln und dem 1. FC Nürnberg verschlagen hatte. Die Begegnung mit Postecoglu war der Gamechanger für Broich.

„Als ich ihn kennengelernt habe, hat sich vieles für mich verändert. Vor ihm hatte ich eigentlich fast nur Trainer, die immer auf das nächste Ergebnis geschielt haben. Postecoglu aber geht es nie darum, nur das nächste Spiel zu gewinnen. Es geht immer nur um das „Bigger Picture“. Es geht darum, eine Art und Weise von Fußball zu entwickeln, die es dir ermöglicht, jedes Spiel zu gewinnen. Es war niemals ‚Beat the better team‘. Es war immer ‚Be the better team‘“, erzählt Thomas Broich.
Schlüsselerlebnis für BVB-NLZ-Chef Broich
Ein Sinneswandel und ein vollkommen anderer Ansatz. „Das war am Anfang krass hart und es war nicht erfolgreich. Postecoglu wollte einfach alles fußballerisch lösen und es gab keinen Plan B. Und du denkst: Oh mein Gott, das kann nicht klappen. So wurde ich als Spieler ja selber nicht sozialisiert“, berichtet Broich. Doch irgendwann griffen die Ideen des Trainers. Eineinhalb Jahre lang blieb seine Mannschaft daraufhin ungeschlagen, holte zweimal die Australische Meisterschaft.
Für den Sportlichen Leiter des BVB-NLZ war es das Schlüsselerlebnis. „Nur deswegen bin ich heute Trainer oder mittlerweile Sportlicher Leiter. Ich habe zum ersten Mal für mich begriffen, wie so ein Fußball entwickelt werden kann, wie planbar das Ganze auch ist. Wenn man sich traut und dazu in der Lage ist, Dinge auszuhalten.“
BVB-Skeptiker widerlegen
Das sei das Wichtigste. „Der Weg bis zum Ziel ist sehr steinig und es gibt viele Leute, die sagen: Das funktioniert nicht. So ist das am Anfang immer. Da ist eine völlig natürliche menschliche Skepsis. Aber mit dem Machen kommt die Fantasie. Mit dem Sich-Trauen kommt immer auch noch mehr Mut. Man muss nur dahin kommen, dass man Dinge für möglich hält, dass man an eine Idee und an die Jungs glaubt“, unterstreicht Broich.

Diese Denkweise will er bei Borussia Dortmund in der Arbeit mit Talenten implementieren. Er will die Menschen beim BVB für seinen Weg begeistern. Dafür nimmt er auch gerne kurze Nächte in Kauf. Manchmal am Abend, wenn seine Frau und seine Tochter bereits im Bett liegen, zieht es Broich noch mal an den Schreibtisch. An seinem Rechner hat er eine Software, mit der er Videos zusammenschneiden kann. Ein Freund vom Film hat ihm einst beigebracht, wie man das Programm nutzt.
Dann schnappt sich Broich vorhandenes Videomaterial und schneidet Sequenzen vom BVB-Training zusammen oder erstellt Best-Practice-Beispiele. Er könne die Szenen verlangsamen, beschleunigen, sie mit Musik unterlegen, Animationen einbauen. Jede Menge Schindluder treiben. Videos, die er dann tags drauf wieder in der WhatsApp-Gruppe posten kann. Broich glaubt an die Wirkmacht von Bildern. Er nennt sie sein „Lieblingsvehikel“.