
Ab der 80. Minute, erzählte Hans-Joachim Watzke nach dem nächsten aufreibenden Champions-League-Spiel seiner Borussia, sei er sich sicher gewesen. „Da fällt kein Tor mehr.“ In den letzten fünf Minuten des Halbfinal-Rückspiels traf Paris Saint-Germain zwar noch zwei Mal das Aluminium des Dortmunder Tores, doch irgendwie sollte es tatsächlich so sein. Ausgerechnet in einer Saison, die für Borussia Dortmund vor allem in der Bundesliga zu viele Tiefen bereithielt, erreicht der BVB zum dritten Mal in seiner langen Vereinsgeschichte das Finale und sorgt mit dem 1:0 in Paris für eine Cinderella Story, die sich rational kaum erklären lässt.
BVB: Kehl und Terzic auf der Kippe
Totgesagt nach der Auslosung, erst recht totgesagt nach den ersten beiden Spielen, nach denen nur ein Zähler auf der Habenseite stand – der BVB hat sich tief aus dem Sumpf ziehen müssen, das aber im Verlauf dieser Saison mit Bravour gemacht. Totgesagte leben halt länger, das galt erst recht in einem Wettbewerb, der im Herbst die willkommene Abwechslung war und sich zur Wohlfühloase entwickelte. In der Königsklasse fand Dortmund Ablenkung vom tristen Tagesgeschäft, das Enttäuschungen in zu großer Regelmäßigkeit bereithielt und den Trainer, aber auch den Sportdirektor an den Rand des Abgrunds brachte. Kurz vor Weihnachten fehlte nicht viel, für Edin Terzic und Sebastian Kehl war die Luft extrem dünn geworden, beide retteten sich mit Mühe über die Feiertage.
Die Wintervorbereitung half – wie im Vorjahr. Die Mannschaft stabilisierte sich in der Rückrunde, ohne allerdings in der Liga auch nur in die Nähe einer Leistung wie der in beiden Spielen gegen Paris zu kommen. International aber gab Borussia Dortmund eine gute Visitenkarte ab und nutzte auch die Gunst der gnädigen Auslosung für die K.o.-Runden. Eindhoven musste man schlagen, Atletico besiegte man mit einer Willensleistung. Das Halbfinale gegen Paris war eine Meisterleistung in zwei furiosen Akten. PSG verzweifelte vor allem an Borussia Dortmunds Widerstandsfähigkeit – und am Aluminium, das dem BVB in beiden Partien treu zur Seite stand.
Einzusätzlicher Trumpf für den BVB
Der Stellenwert dieses Triumphzuges lässt sich in Euro bemessen (auch das tut der Borussia gut), ist aber bei den „weichen Faktoren“ wohl noch viel höher zu bemessen. Der Imagegewinn ist immens, nicht nur in Deutschland. Als Finalteilnehmer wird man mit anderen Augen gesehen, mit mehr Respekt. Und man wird interessanter für Spieler jeder Altersklasse, seien es die gestanden, die Borussia Dortmund auch einbauen muss in den Kader für die kommenden Jahre. Oder die Talente. Im Werben um die Juwele der Zukunft konnte der BVB seit Jahren mit der Aussicht auf Spielzeit und damit eine gute Basis für die eigene Weiterentwicklung punkten. Sportliche Erfolge auf höchstem Niveau sind ein nicht zu verachtender zusätzlicher Trumpf.
Am Mittwochabend wird feststehen, ob es in London eine Neuauflage des Endspiels von 2013 geben wird, oder ob sich Borussia Dortmund mit der vielleicht abgezocktesten Mannschaft Europas wird messen dürfen. Egal, ob es am Ende Bayern München oder Real Madrid um Jude Bellingham sein wird, alle Dortmunder Spieler bekräftigten den riesengroßen Willen, diese Reise jetzt auch zum Endbahnhof zu führen. Das wäre vor allem für Marco Reus ein nicht mehr für möglich gehaltenes Ende seiner Dortmunder Zeit, die vor elf Jahren nach der Rückkehr aus Gladbach mit dem Vorstoßen bis ins Finale von Wembley begann. Noch ein „großer Titel“ für Reus, dafür, das haben ihm seine Mitspieler versprochen, wollen sie alles tun.
Knifflig für den BVB: Die dreieinhalb Wochen Pause bis zum großen Finale am 1. Juni fallen in eine Phase, in der Borussia Dortmund in vielen Personalien Nägel mit Köpfen machen muss. Einige Spieler werden dann wissen, dass mit ihnen nicht mehr geplant wird, andere werden vielleicht selbst mit dem Wunsch nach einer Veränderung an den Klub herantreten. Auf diese Begleitumstände in der Vorbereitung auf das wichtigste Spiel der jüngeren Vereinsgeschichte würde man wohl gern verzichten, ändern lässt sich das aber nicht. Da steht eindeutig der Kader in der Pflicht: Aller Fokus muss jetzt auf diese eine letzte Partie dieser in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Saison gerichtet sein.