Niko Kovac und Hansi Flick haben noch nie ein Spiel gegeneinander bestritten. Dennoch kennen sich die beiden Trainerveteranen bestens – nicht als Gegner, sondern als Kollegen. Im Sommer 2019 verpflichtete der FC Bayern München Flick. Er sollte als Co-Trainer Chefcoach Kovac zuarbeiten.
Kovac und Flick mit großen Unterschieden
Nur wenige Monate später entließ der Rekordmeister Kovac. Flick übernahm. Es zeigte sich: Die Philosophie der beiden Ex-Kollegen könnte kaum unterschiedlicher sein. Kovac setzte auf zögerlichen, stabilen Defensivfußball. Unter Flick gewannen die Bayern mit Hochgeschwindigkeitsfußball und wahnwitzig riskantem Pressing das Sextuple.
Auch wenn beide Trainer vor dem direkten Duell im Champions-League-Viertelfinale nur warme Worte übereinander verlieren: Sie unterscheiden sich massiv in ihrer Spielphilosophie. Wer setzt sich in der Königsklasse durch? Der eher defensiv denkende Kovac? Oder Flick, der auf aggressiven Offensivfußball setzt?
BVB-Gegner Barcelona spielt ein gnadenloses Pressing
In Barcelona führt Flick seinen kompromisslos offensiven Weg fort. Kein Team in Europa hat in dieser Saison mehr Tore geschossen. In sieben von zehn Champions-League-Partien erzielte Barca drei Tore oder mehr. Die Mannschaft zeichnet sich unter Flick durch ein gnadenloses Pressing aus. Das Team verteidigt in einer Mischung aus 4-3-3 und 4-4-1-1. In beiden Varianten schieben sämtliche Spieler weit nach vorne. Die Stürmer laufen in der ersten Linie den Gegner an, das Mittelfeld stellt die Anspielstationen des Gegners zu.
Ins Risiko geht besonders die Abwehr. Die Außenverteidiger rücken ins zentrale Mittelfeld ein, um eine Überzahl herzustellen. Die Innenverteidiger positionieren sich ebenfalls nahe der gegnerischen Hälfte. In ganz Europa schiebt nur der FC Bayern München seine Abwehrlinie im Schnitt höher als der FC Barcelona. Manchmal nutzt man sogar eine klassische Abseitsfalle – ein taktisches Mittel, das aus dem Spitzenfußball längst verschwunden schien. Barca möchte den Gegner stressen, um den Ball möglichst schnell zu erobern. Häufig gelingt das.
BVB-Gegner Barcelona ist kaum vom Ball zu trennen
Wenn Barcelona selbst den Ball hat, greifen sie mit Geduld an. Häufig lässt sich Sechser Frenkie de Jong fallen. Der Niederländer gestaltet das Spiel aus der Tiefe heraus. Man sollte sich von Barcelonas ruhiger Ballzirkulation allerdings nicht täuschen lassen, Keine Mannschaft verschärft das Tempo von einer Sekunde auf die andere derart rasant wie der FCB.
Einen gewichtigen Beitrag dazu leisten die zentralen Mittelfeldspieler. Gavi und Pedri suchen ständig Lücken zwischen der gegnerischen Abwehr- und Mittelfeldlinie. Unterstützung erhalten sie dabei von Stürmer Robert Lewandowski. Der Ex-Dortmunder lässt sich zwischen die Linien fallen. Diese Überladung der zentralen Räume soll den Gegner ins Zentrum locken. Die größte Waffe der Katalanen lauert derweil auf den Flügeln: Raphinha und Lamine Yamal gehören zu den formstärksten Spielern Europas. Raphinha startet mit seinem Tempo ständig hinter die Abwehr, Yamal wiederum kann im Alleingang zwei oder mehr Gegenspieler ausdribbeln.
Die wahre Stärke der Katalanen ist dementsprechend weniger taktischer denn individueller Natur: Ihre Offensivkünstler sind kaum vom Ball zu trennen und strahlen immer Gefahr aus. Wenn sich der Gegner im Zentrum zusammenzieht, greifen sie über die Flügel an. Falls die Verteidiger aber nur eine kleine Lücke im Zentrum lassen, kombiniert sich Barca kunstvoll vors Tor.
BVB-Trainer Kovac muss Ruf gerecht werden
Kaum einem Gegner gelingt es, Barcas Offensive aufzuhalten. Auch der BVB verlor in der Gruppenphase mit 2:3 gegen den FCB, damals noch unter der Ägide von Nuri Sahin. Ob Nachfolger Kovac das richtige Rezept findet? Der Kroate ist als Trainer vor allem als Defensivpapst bekannt. Im Vergleich sank die Zahl der erzielten Tore unter Kovac zwar von 2,0 auf 1,8 pro Spiel. Dafür hat sich die Zahl der Gegentore nahezu halbiert, von 1,6 auf 0,9.
Zuletzt stellte Kovac vom klassischen 4-2-3-1 auf ein 5-2-1-2 um. Die Fünferkette könnte auch gegen Barcelona helfen, die eigene Abwehr zu stabilisieren. Im Mittelfeld dürfte der Trainer indes eine defensivere Variante als zuletzt bevorzugen. Mit Julian Brandt und Carney Chukwuemeka dürfte der BVB Gefahr laufen, im Mittelfeld überrannt zu werden, zumal Pascal Groß im Hinspiel gesperrt fehlt.
BVB-Defensive muss tadellos funktionieren
Wenn der BVB seine Chance auf das Weiterkommen wahren möchte, muss die Defensive tadellos funktionieren. Besonders im Hinspiel wird Barca deutlich mehr Ballbesitz haben. Dortmund muss sowohl die Räume im Zentrum schließen als auch die Flügel absichern.
Barcas hohes Pressing bietet indes Angriffsflächen. Kovac dürfte nicht zufällig seinen Sturm umgestellt haben. In Karim Adeyemi und Maximilian Beier starteten zuletzt zwei pfeilschnelle Angreifer. Barcas Vorrücken im eigenen Pressing bietet die Chance, mit Vollgas hinter die Abwehr zu gelangen. Gerade auf den Flügeln öffnen sich hinter den einrückenden Außenverteidigern Lücken. Adeyemi, Beier oder Serhou Guirassy werden genau diese Räume attackieren.
BVB steht vor ultimativem Stresstest
Der BVB wird zudem versuchen müssen, im Spielaufbau immer wieder die Seiten zu verlagern. Barca will den Gegner im Pressing auf einen Flügel locken und dort erdrücken. Die gegenüberliegende Seite lassen sie frei. Dieses hohe Pressing auszunutzen, ist jedoch leichter gesagt als getan. Selbst stärkste Gegner haben sich von Barcelonas Pressing stressen lassen. Für den BVB ist das Viertelfinale nicht nur der ultimative Stresstest. Und Kovac kann beweisen, dass seine Philosophie besser sein als die seines früheren Co-Trainers.