Die Verarbeitung von einem der wohl bittersten Momente seiner Laufbahn fand bei Edin Terzic ausschließlich im privaten Bereich statt. Borussia Dortmunds Trainer hat sich abgeschottet nach den dramatischen Minuten des 34. Spieltags der vergangenen Saison, in denen ihm und einer ganzen Stadt die Erfüllung eines lang ersehnten Traums aus den Händen gerissen wurde.
Tränen vor der Südtribüne
Fünf Wochen lang gab es kein Lebenszeichen des Trainers Edin Terzic. Schaut man auf sein Profil beim Fotodienst Instagram, steht da sehr prominent immer noch der bewegende Tag seiner Unterschrift unter den Cheftrainer-Vertrag beim BVB vor 13 Monaten. Danach gab es nur noch einen weiteren Post: Terzic als Pate mehrerer Giraffen im Dortmunder Zoo. Ein Wohlfühl-Termin im September 2022.
Terzic in Tränen vor der Südtribüne, der wieder lächelnde Terzic bei der ersten medienöffentlichen Einheit der neuen Saison in der vergangenen Woche – dazwischen lag nicht nur der Erholungs-Urlaub, sondern auch ein Prozess schmerzhafter Aufarbeitung.
Zweite BVB-Saison als Gradmesser
Die Erkenntnisse sollen in die Vorbereitung auf die neue Saison einfließen. Jede Menge Arbeit wartet auf den jungen Trainer, der in der Saison-Analyse nicht nur ergründen musste, warum Borussia Dortmund direkt vor dem Zielstrich ins Stolpern geriet und folgenschwer stürzte. Die Grundlagenarbeit am „neuen BVB“ war auch ohne das traumatische Saisonfinale allenfalls eingeleitet.

Für Terzic wird die zweite BVB-Saison zum Gradmesser seiner Arbeit. Er startet mit jeder Menge Vertrauensvorschuss. Aus dem Verein, vor allem von den Fans, schlägt ihm nach einer starken Aufholjagd nach der WM-Pause jede Menge Rückendeckung entgegen. Dortmunds Rückrunde hat jene Fantasie geweckt, die zehn lange Jahre nach der bislang letzten Meisterschaft tief verschüttet war. Die zehn allesamt gewonnenen Pflichtspiele zu Beginn des Jahres sind die Messlatte für das Potenzial dieses Kaders, die Stolperer, die es danach auch in der Rückrunde gab, die Ansatzpunkte für noch härtere Arbeit.
Die grobe Marschrichtung lässt sich leicht identifizieren. 16 Mal spielte Dortmund wettbewerbsübergreifend zu Null, sattelfest wirkte die Abwehr aber längst nicht immer. Besonders die 44 Gegentore in der Bundesliga belegen die schwankende defensive Stabilität. Die Arbeit gegen den Ball wird ein Schwerpunkt bleiben, vor allem muss Terzic seiner Mannschaft einimpfen, auch in Stress-Situationen nicht die Ruhe zu verlieren.
Wo Terzic Luft nach oben hat
Die Schlussphase in Stuttgart, als Dortmund eine Führung in Überzahl verspielte und dann noch den Ausgleich fing, weil ein Teil der Mannschaft Pressing spielte, der andere Teil sich aber zu weit zurückzog und im Mittelfeld ein riesiges Loch klaffte, gehört zum großen übergeordneten Punkt „In-game-Coaching“. Hier hat Terzic naturgemäß noch Luft nach oben. Wann ist der richtige Zeitpunkt, wie nutze ich die Wechselfenster? Wie reagiere ich taktisch auf Spielentwicklungen?
Die Basis für die Weiterentwicklung als Chef ist eine bemerkenswerte Eigenschaft des Dortmunder Trainers. Nur wenige Trainer der Liga reflektieren ihre eigene Arbeit so offen, wie Terzic es in der vergangenen Saison des Öfteren tat. Terzic stellte sich immer vor seine Spieler, er war immer bereit, ins Büßerhemd zu schlüpfen, wenn es nicht lief.
Korrekturen im Winter
Und er reagierte auf erkannte Defizite, in dem er zu tiefgreifenden Korrekturen bereit war. Im Winter die taktische Ausrichtung zu verändern und Verantwortung auf dem Feld neu zu verteilen, in dem er die Platzhirsche Hummels und Reus in Nebenrollen verschob, gab der Borussia wichtige neue Impulse. Auf das fortan favorisierte 4-1-4-1 zu beharren, erwies sich freilich als Fluch und Segen. Vorne „wow“, hinten bisweilen „au“, das kannte man schon aus vielen Vorjahren. Auch Terzic bekam das Problem nicht vollständig in den Griff.
Der Start in Terzics zweite Saison als Cheftrainer lässt bereits erahnen, dass es ähnlich turbulent werden könnte wie im Vorjahr, als die Krebs-Erkrankung von Sebastien Haller den kompletten Klub durchschüttelte.
Vorbereitung mit Störgeräuschen
Auch diesmal begleiteten außersportliche Störgeräusche um die viel diskutierte Verpflichtung von Felix Nmecha den Auftakt in eine sechswöchige Vorbereitung, die unter erschwerten Bedingungen stattfindet. Dem 40-Jährigen steht bis Ende dieser Woche nur ein Rumpfkader zur Verfügung, eine Woche nach der Rückkehr der Nationalspieler geht es für elf Tage in die USA. Eine PR-Reise, in die mühsam ein Mini-Trainingslager integriert wurde. Mehr als einen kompletten Tag werden die Profis in Flugzeugen verbringen, reisen durch verschiedene Zeitzonen und müssen nach der Rückkehr in wenigen Tagen den Jet-Lag aus den Beinen und Köpfen schütteln.

Alles andere als optimal, doch der Perfektionist Terzic stellt sich dieser Herausforderung ohne öffentliches Murren. Die Kollision wirtschaftlicher Notwendigkeiten und sportlicher Interessen verfolgt den Cheftrainer auch auf anderen Ebenen. Erst zwei neue Spieler hat der BVB verpflichtet. Die Preise, siehe Nmecha, sind verdorben, Geduld und Verhandlungsgeschick sind gefragt. Gut möglich, dass Terzic von Sportdirektor Sebastian Kehl erst im Laufe der USA-Reise oder danach weitere Neuzugänge zur Verfügung gestellt werden. Mit der Konsequenz einer nur minimalen Eingewöhnungszeit.
BVB-Trainer als Titel-Baustein
„Wir waren ein Tor vom Meistertitel entfernt“, hat Terzic Ende Mai in der Minute des größten Schmerzes erklärt. „Ab morgen sind wir wieder 34 Spieltage davon entfernt.“ Dieser Satz gilt unverändert. Wie nahe Borussia Dortmund der Schale dann im April und Mai 2024 kommen kann, ist abhängig von vielen Faktoren. Terzics Weiterentwicklung als Cheftrainer könnte ein entscheidender Baustein werden.
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