BVB-Nachwuchschef Lars Ricken über Moukoko „Ich hatte Bedenken, ihn zu verpflichten“

BVB-Nachwuchschef Lars Ricken über Moukoko: „Ich hatte Bedenken, ihn zu verpflichten“
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Einen Flaschenöffner? Braucht er nicht. Die Begründung liefert er gleich hinterher. „Ich komme aus Dortmund“, sagt Lars Ricken und öffnet die Flasche einfach mit einer anderen. Es handelt sich an diesem Abend wohlgemerkt um Mineralwasser und nicht um Bier. Ricken ist zu Gast im Podcast der Ruhr Nachrichten. Gut gelaunt nimmt er Platz und wie aus der Flasche sprudelt es auch aus ihm heraus. Dort spricht er über seine Erlebnisse bei Borussia Dortmund und seine Arbeit als Chef des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ).

Die Förderung von Talenten hat sich (nicht nur) beim BVB im Vergleich zu Rickens aktiver Zeit massiv verändert. „Ich hatte Trainer, die mich gefördert haben, aber das ist mit dem, was wir heutzutage anbieten, nicht mehr zu vergleichen“, erzählt Ricken. Damals habe es bei der Borussia genau zwei hauptamtliche Übungsleiter gegeben – den der A- und den der B-Jugend. Heute wiederum kümmern sich in Dortmund rund 100 Mitarbeiter im NLZ um die knapp 200 Spieler. Neben Trainern, Scouts, Spielanalysten, Medizinern und Physiotherapeuten gibt es Mitarbeiter im Jugendhaus, Lehrer, (pädagogische) Betreuer und Fahrdienste für die Spieler. Kein Vergleich zu früher. „Ich war damals komplett auf mich alleine gestellt“, sagt Ricken.

Er erinnert sich an einen Dezemberabend 1994. Der BVB spielt im Uefa-Cup bei Deportivo La Coruna. „Während die Mannschaft erst am nächsten Tag zugereist ist, bin ich mittwochnachts um 3 Uhr mit dem Fanflieger zurück nach Düsseldorf geflogen, weil ich am nächsten Tag noch eine Geschichtsklausur geschrieben habe. Im Flieger habe ich noch dafür gelernt“, berichtet Ricken. Von Düsseldorf aus geht es mit dem BVB-Fanbus retour nach Dortmund. „Dort angekommen, habe ich mich dann noch eine halbe Stunde in die Großmarktschänke gesetzt und bin dann zur Schule“, erzählt Ricken. Ohne eine Sekunde Schlaf habe er die sechsstündige Klausur geschrieben und sei anschließend direkt zum Training gefahren. Trotz Schlafmangels läuft Ricken an diesem Vormittag zur Höchstform auf. „Es war eine 2+ - meine beste Klausur, die ich jemals in Geschichte geschrieben habe“, freut sich Ricken noch heute.

Der BVB lege nicht nur viel Wert auf eine fußballerische, sondern eben auch eine schulische Ausbildung seiner Talente. Der Klub kooperiert mittlerweile mit drei Partnerschulen. Von den dort betreuten 40 Spielern habe es bei insgesamt 400 Noten nur drei Fünfen gegeben. Für Ricken ein Beleg für die hohe Eigenmotivation der jungen Spieler, die zusammen mit dem Fußball „auf eine 60-, 70-, 80-Stunden-Woche kommen, die Belastung ist enorm hoch“, stellt Ricken klar. Denn klar ist: Trotz großer Veranlagung schaffen nur die wenigsten Spieler am Ende den Durchbruch, erst recht beim BVB, bei dem die Konkurrenz noch mal größer als bei den meisten anderen Bundesligisten ist. „Das Leben hat aber auch viel zu bieten, wenn man nicht Fußballprofi werden kann“, findet Ricken.

BVB-Talenteausbildung erfordert Geduld

Auch das wolle der BVB seinen Nachwuchskräften vermitteln. Dario Scuderi und Patrick Fritsch, zwei der größten Dortmunder Talente der jüngeren Vergangenheit, mussten ihre Karriere frühzeitig wegen schwerer Verletzungen beenden. Umso wichtiger sei ein zweites Standbein. Im NLZ in Brackel soll „jeder Einzelne zu dem besten Spieler ausgebildet werden, der er sein kann“. Der BVB setzt bei der Ausbildung der Talente auf vier Grundpfeiler: „Die Jungs sollen Widerstandsfähigkeit, Bodenständigkeit, Selbstbewusstsein und ein großes Maß an Identifikation mit Mitspielern, dem Verein und der Stadt entwickeln“, betont Lars Ricken.

Lars Ricken, Rupert Thiele, Sascha Staat und Dirk Krampe sitzen an einem Tisch.
Die Podcast-Runde: (von links) BVB-Nachwuchschef Lars Ricken, BVB-Handball-Abteilungsleiter Rupert Thiele, Moderator Sascha Staat und Reporter Dirk Krampe lieferten dem Publikum 90 kurzweilige Minuten. © Patrick Suephke

Dabei sei am Ende immer auch Geduld gefragt. „Und zwar auf beiden Seiten. Auf Vereinsseite, aber eben auch beim Spieler, dessen Berater und den Eltern“, sagt der BVB-Nachwuchschef. Die Erwartungshaltung sei enorm. Aber Entwicklung vollzieht sich nicht immer im gleichen Tempo. Dennoch habe der BVB aktuell in Youssoufa Moukoko, Jamie Bynoe-Gittens und Tom Rothe allein drei Eigengewächse im Profi-Kader, die noch in der U19 spielen könnten.

Sechs WM-Fahrer aus dem BVB-NLZ

Auch die WM in Katar, an der in Antonio Rüdiger, Mario Götze, Youssoufa Moukoko, Jonas Hofmann, Giovanni Reyna und Christian Pulisic gleich sechs beim BVB ausgebildete Spieler teilgenommen haben, wertet Lars Ricken als Beleg für gelungene Jugendarbeit. „Das zeigt: Die Qualität, die wir hochbringen, ist recht ordentlich in den letzten Jahren.“

Sebastian Kehl und Lars Ricken bejubeln einen Treffer im Derby gegen Schalke.
Sebastian Kehl und Lars Ricken bejubeln einen Treffer im Derby gegen Schalke. © picture-alliance/ dpa/dpaweb

Das aktuell größte Juwel ist wohl Youssoufa Moukoko. „Ich hatte damals große Bedenken, ihn zu verpflichten“, räumt Ricken ein. Moukoko ist damals elf Jahre alt, lebt in Hamburg und spielt bei St. Pauli. Ricken hat Skrupel, einen so jungen Spieler zu holen und aus seinem gewohnten Umfeld zu reißen. Doch Moukokos Berater sei seinerzeit auf den BVB zugekommen und habe gesagt, sein Schützling werde in jedem Fall wechseln. „Sein Berater hat damals zu mir gesagt: ‚Ich sehe ihn bei euch, weil ihr bewiesen habt, dass ihr gut mit jungen Spielern umgehen könnt.‘ Deswegen haben wir ihn bekommen. Also habe ich mich mehr oder weniger breitschlagen lassen, ihn bei uns aufzunehmen“, erzählt Ricken.

Europäische Konkurrenzsituation

Bereut hat er diese Entscheidung natürlich nicht. Moukoko hat eine atemberaubende Entwicklung genommen. Top-Talente ausfindig zu machen und sie nach Dortmund zu lotsen, werde dagegen zunehmend schwieriger. „Inzwischen befinden wir uns nicht mehr in einer regionalen Konkurrenzsituation mit Schalke, Bochum und Bielefeld, sondern in einer europäischen. Wenn wir einen 16-Jährigen verpflichten wollen, konkurrieren wir im Zweifelsfall mit spanischen, englischen oder französischen Mannschaften. Das ist schon krass geworden“, urteilt der BVB-Nachwuchschef.

Im Buhlen um die größten Talente müsse der Klub seine Stärken herausarbeiten, um Spieler letztlich von sich zu überzeugen. Neben der sportlichen Perspektive zähle dazu auch das familiäre Umfeld, das die Borussia ihren Jugendspielern biete. Dennoch gibt es auch für den BVB Grenzen. So stiegen die Schwarzgelben im Transferpoker um den erst 13 Jahre alten Mike Wisdom aus, der im Frühjahr für 300.000 Euro aus Mönchengladbach zum FC Bayern wechselt.

BVB plant Ausbau des Trainingsgeländes

Diese Summe sei nicht das Ende der Fahnenstange, konstatiert Lars Ricken. Für die Borussia aber sei das ein No-Go. „Da sind wir raus, denn es gibt in diesem Alter definitiv noch keine verlässliche Talentprognose“, so Ricken. Zugleich würde sich der Verein seine Struktur im NLZ mit solch hohen Summen kaputtmachen, da diese wiederum andere Spieler und Berater auf den Plan riefen.

Lars Ricken hält ein Plakat in den Händen.
Lars Ricken ist seit seinem Treffer im Champions-League-Finale 1997 gegen Juventus Turin eine Vereinslegende beim BVB. © picture alliance / dpa

Der BVB möchte die Talente im Wettstreit mit der Konkurrenz anderweitig überzeugen – und dazu zählt auch das Trainingsgelände in Brackel. Das soll künftig erweitert und verbessert werden. „Die Pläne dazu liegen schon in der Schublade, aber dann kam Corona. Deshalb liegen sie erst mal auf Eis.“ Ricken schweben der Ausbau von Rasenplätzen, eines Athletik- und Reha-Bereichs, der Bau einer Sporthalle und ein Tagesinternat vor, um Spieler zwischen Schule und Training besser betreuen zu können. Die bessere Vereinbarkeit von schulischer und fußballerischer Ausbildung sei ebenfalls ein wichtiges Thema. Das Schulsystem in Deutschland sei aber sehr starr. „Es ist eben ein riesiger Unterschied, ob du mit 16 schon wie ein Vollprofi lebst und trainierst oder ob du sechs, sieben Stunden zur Schule gehst und danach noch mal trainierst. Da hast du eine ganz andere Trainingsintensität“, unterstreicht Lars Ricken.

Ricken wünscht sich Strukturreform

Und auch den nationalen Wettbewerb sähe er gern reformiert. „Wir würden gerne eine Ligenstruktur haben, bei der wir nicht erst im Halbfinale oder Finale der Deutschen Meisterschaft auf Bayern, Berlin oder Hamburg treffen können.“ Es gibt also noch viel zu tun, für den DFB, den BVB und für Lars Ricken. Nach drei Flaschen Mineralwasser und rund 90 kurzweiligen Minuten plus Nachspielzeit verabschiedet sich der BVB-Nachwuchschef. Nicht, ohne noch Autogramm- und Fotowünsche zu erfüllen. Er kommt aus Dortmund. Das merkt man. Auch heute noch.

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