Lars Ricken ist bei Borussia Dortmund eine Institution. Der Direktor des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) hat mit dem BVB schon viel erlebt. Das Jahr 2023 war dennoch besonders. Im Gespräch mit RN-Redakteur Martin Bytomski lässt der 47-Jährige die vergangenen zwölf Monate Revue passieren.
Sie sind seit 2008 als Funktionär im BVB-Nachwuchs beschäftigt. Haben sie schon mal ein solch turbulentes Halbjahr erlebt? Zunächst die unklare Situation um Julian Rijkhoff, dann die Suspendierung von Paris Brunner mit der anschließenden Wiedereingliederung und dem WM-Gewinn als bester Spieler.
Das ist schwierig zu sagen. Ich bin in meiner Funktion auch immer ein wenig ein Troubleshooter. Am Ende geht es darum, die Dinge in die richtige Richtung zu lenken. Deshalb sind solche Sachen für mich auch ein Stück weit Normalität. Es ist viel passiert, aber auch im positiven Sinne.
Was meinen Sie?
Der Bundesliga-Einsatz von Samuel Bamba war mit die größte Geschichte für den gesamten Nachwuchsbereich. Der Junge ist seit der U9 hier, wurde über zehn, elf Jahre nicht nur von verschiedenen Trainern oder Mitarbeitern ausgebildet, sondern auch von alle denen, die da drumherum sind. Das ist eine herausragende Geschichte und zeigt auch, dass gute Leistungen, die er etwa in der Youth League gegen Paris gezeigt hat, von Edin Terzic belohnt werden. Das ist ein tolles Zeichen auch an alle anderen Jugendspielern hier bei uns.
Bamba pendelt zwischen drei Mannschaften: In der Youth League ist er Teil der U19, in der Regel steht er im U23-Aufgebot und jetzt sein Bundesliga-Debüt. Wie schwierig sind häufige Wechsel?
Das ist kein großes Problem. Die richtig guten Spieler wechseln schon im Juniorenbereich immer mal wieder zwischen den Mannschaften, dazu kommen die Nationalmannschaften, wo sie auch verschiedene Trainer haben. Es geht vor allem darum, ihre Stärken in den jeweiligen Mannschaften einsetzen. Außerdem hilft es, dass all unsere Teams offensiv ausgerichtete Systeme spielen.

Zurück zum Thema Rijkhoff: Dortmunds U19-Trainer Mike Tullberg lobt die Reintegration in seine Mannschaft. Klar ist aber auch: Das Sturm-Talent benötigt nach zwei Jahren bei den A-Junioren Spielpraxis im Herrenfußball. Wie ist seine Perspektive?
Julian ist in den wichtigen Spielen vorangegangen, hat sich in der Defensive deutlich gesteigert, holt Bälle und geht als Führungsspieler voran. Er nimmt also eine gute Entwicklung. Wir müssen abwarten, wer bei den Profis und der U23 mit ins Trainingslager fährt. Davon hängt es ab, wo er mitfährt. Klar ist aber: Er wird über Trainingseinheiten Seniorenfußball bekommen. Alles Weitere werden wir dann entscheiden.
Ajax Amsterdam, Rijkoffs langjähriger Ausbildungsverein, soll an der Rückkehr seines ehemaligen Schützlings interessiert sein. Hat sich bei Ihnen schon jemand wegen einer Verpflichtung gemeldet?
Nein, bei mir ist nichts angekommen.

War der Umgang des Vereins mit der Suspendierung und Wiedereingliederung von Rijkhoffs Stürmerkollegen Paris Brunner in der Rückbetrachtung richtig?
Wenn ich seine Entwicklung in den letzten Wochen sehe: definitiv! Es gab einen Vorfall, dann hat er drei Partien nicht gespielt. Wir haben es aber mit vielen Gesprächen mit ihm und den Eltern gut aufgearbeitet. Damit war und ist das für uns erledigt gewesen. Uns war wichtig, es vor der WM aus der Welt zu schaffen. Er hatte ja im Vorfeld der Weltmeisterschaft dafür gesorgt, dass die Jungs zur WM fahren konnten. Das wollten wir ihm nicht nehmen. Respekt für die WM, die er gespielt hat! Aber auch dafür, wie er zu uns zurückgekommen ist, er war ja direkt bei den Profis auf der Bank. Dann hat er sich in der Youth League nicht geschont, sich gegen Paris in jeden Zweikampf reingeknallt. Das war extrem bemerkenswert. Er hat eine gute Widerstandsfähigkeit – die wird er auch brauchen.
Wieso?
Seine Gegenspieler gehen teilweise rücksichtslos in die Zweikämpfe, versuchen, ihn so zu provozieren. Die nächste Zeit wird eine Herausforderung für ihn. Aber so, wie er sich in den letzten Monaten entwickelt hat, wird er damit gut umgehen können.

Wie ist der weitere Plan mit ihm? Er wird im Februar 18 Jahre alt und ist dann für einen Profivertrag berechtigt …
Wir reden bei Paris natürlich nicht mehr über einen Fördervertrag. Wir haben einen klaren Plan mit ihm. Den haben wir mit ihm und seiner Familie besprochen. Klar ist, dass er mit seiner Qualität ein Thema für den Profibereich wird.
Neben Brunner waren auch Charles Herrmann und Almugera Kabar wichtige Stützen der Weltmeistermannschaft. Wie wirkt sich der WM-Gewinn auf dieses Trio aus?
Es ist eine Erfahrung, die ihnen niemand mehr nehmen kann. Ich bin selbst U17-Europameister geworden. Wenn ich darüber nachdenke, bekomme ich heute noch eine Gänsehaut. Egal, welche Erfolge sie noch feiern werden, das werden sie nie vergessen. Das war auch fürs Selbstbewusstsein extrem wichtig, Charles wurde zweimal zum Spieler des Spiels gewählt. Wie groß die Wertschätzung für Almugera beim DFB ist, sieht man daran, dass er vor der WM monatelang verletzt war, bei uns nur eine Trainingseinheit mitgemacht hat und dann nach Indonesien geflogen ist. Das macht man nur bei einem Spieler, den man extrem wertschätzt. Umso schöner ist es, dass er den entscheidenden Elfmeter verwandelt hat. Schade, dass Kjell Wätjen nicht dabei war, er musste aus schulischen Gründen absagen.

Haben die Leistungen Interessenten auf den Plan gerufen?
Die Spieler sind durch die Youth League und Nationalmannschaften ohnehin im internationalen Fokus. Es ist für uns also Normalität, dass unsere Jungs das Interesse über die Landesgrenzen wecken.
Die U19 hat sich in einer schwierigen Gruppe trotz teils arger Verletzungssorgen durchgesetzt. Wie blicken Sie auf die Gruppenphase der Youth League?
Das war ein überragender Erfolg. Der AC Mailand ist ein Mitfavorit auf den Gewinn der Youth League. Newcastle hat sich im Verlauf der Gruppenphase enorm gesteigert. Und Paris steht für eine herausragende Jugendarbeit. Dazu standen uns teils die WM-Fahrer nicht zur Verfügung und wegen der Verletzung von Filippo Mane und der Profiabstellung von Hendry Blank gleich zwei Innenverteidiger – unter diesen Rahmenbedingen ist das Weiterkommen eine riesige Leistung.
Sie sprachen Filippo Mane an, der 2022 von Sampdoria Genua zum BVB gewechselt ist. Wird der Markt für die verheißungsvollen Talente umkämpfter?
Ja! Andere Vereine haben gesehen, wie wichtig diese Spieler sein können und welche Marktwerte generiert werden können. Entsprechend werden auch bei anderen Vereinen die Scoutingabteilungen erweitert. Unsere Jungs standen früher vor allem im nationalen Fokus, das ist jetzt durch die Youth League viel transparenter geworden. Wir hatten letztes Jahr in fünf Heimspielen insgesamt fast 300 Scouts hier – ein klares Zeichen für die wachsende Internationalität.

Wie kann sich der BVB gegen die gewachsene Konkurrenz durchsetzen?
Mit unserer Ausbildung. Viele Jungs entwickeln sich bei uns zu Profis. Wir wollen sie finden und in Richtung Profibereich entwickeln. Dieses Modell hat sich bewährt und hilft uns, Neuzugänge vom BVB zu überzeugen.
Die U23 ist in komplett ruhigem Fahrwasser. Wie wichtig ist die 3. Liga für die Entwicklung von Spielern wie Hendry Blank?
Das ist existenziell. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass frühzeige Spielpraxis im Seniorenbereich enorm wichtig ist. Studien zeigen auch, dass das Karrierepotenzial junger Spieler um 20 Prozent erhöht wird, wenn sie frühzeitig im Seniorenbereich ihre Einsätze bekommen. Hendry ist ein gutes Beispiel, er hatte als U18-Spieler kaum Einsätze. Jetzt ist er Stammspieler in der U23 und auch immer häufiger Teil des Profikaders. Das ist ein Paradebeispiel für eine gelungene Entwicklung.
Sie sind seit 15 Jahren für den BVB-Nachwuchs verantwortlich. Was waren die größten Veränderungen?
Es hat sich fast alles verändert. Die Konkurrenz beim Werben um Talente ist, wie schon gesagt, deutlich größer geworden. Die Infrastruktur ist professioneller, die Ausbildung der Trainer hat sich deutlich verbessert. Social Media ist ein ganz eigenes Thema. Wenn die Jungs ein Tor schießen wissen sie genau, wo die Fotografen sitzen. Aber sie gehen auch sehr professionell damit um.
Sie haben viele Spieler kommen und gehen sehen. Wann ist es für Sie an der Zeit für eine Luftveränderung?
Ich bin Dortmunder, mein Vater hat für die Jugend des BVB gespielt und ich bin von ihm mit der Liebe zum Verein erzogen worden. Ich stand selbst auf der Tribüne und durfte 15 Jahre meinen Traum leben, nur für den BVB zu spielen. Die Frage ist: Was ist Glück? Für mich hat Glück viel damit zu tun, anderen Menschen helfen zu können. Ich kann den Spielern die Möglichkeit geben, dass sie die besten Fußballer werden können, die sie sein können. Und wenn es bei uns nicht klappt, dass sie bei einem anderen Verein ihren Traum leben. Gleichzeitig wollen wir den Jungs zu dem bestmöglichen Schulabschluss verhelfen, damit die, die es nicht schaffen, die schulische Basis haben. Die Trainer sind in der Regel auch relativ jung, denen kann ich auch helfen, weiterzukommen. Das ist für mich Glück. Deshalb fühle ich mich in meiner Rolle extrem wohl.
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