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BVB-Nachwuchskoordinator Ricken: Moukoko wird Sahin nicht als jüngsten Spieler ablösen
Borussia Dortmund
Im Nachwuchsbereich ist Borussia Dortmund auch in der Saison 18/19 das Maß aller Dinge. Im Interview spricht BVB-Nachwuchskoordinator Lars Ricken über neue Strukturen, das Duo Skibbe/Addo sowie die Zukunft von Torjäger Youssoufa Moukoko.
Warum hat es bei den Profis in dieser Saison nicht zum ganz großen Wurf gereicht?
Es gibt viele Meinungen und viele Argumente - vielleicht ist es von allem etwas. Es gibt die Theorie, man hätte früher offensiv sagen können - bei neun oder sieben Punkten Vorsprung: Jetzt wollen wir Deutscher Meister werden. Auf der anderen Seite hat es bis dahin gut funktioniert mit der Strategie, es etwas flacher zu halten. Das Glück, das wir in der Hinrunde hatten, hatten wir in der Rückrunde nicht mehr. Nicht nur, dass man die entscheidenden Tore geschossen hat, man hat sie reinbekommen. Viele individuelle Fehler, vielleicht auch etwas fehlende Erfahrung. Man darf auch nicht vergessen, dass die Bayern eine sehr gute Rückrunde gespielt haben. Sie hatten zwar viel Druck, aber leider können sie mit der Erfahrung der vergangenen Jahre sehr gut damit umgehen. Bei anderen Vereinen in dieser Situation wäre es vielleicht anders ausgegangen.
Was überwiegt: Stolz oder Enttäuschung?
Das eine schließt das andere nicht aus. Es war wirklich toll, wie die Jungs gespielt haben mit größtenteils fantastischem Offensivfußball - das ist das, was wir hier im Stadion sehen wollen. Gerade nach den Problemen in der vergangenen Saison sind viele richtige Entscheidungen getroffen worden, deswegen kann man schon stolz sein auf das, was man dieses Jahr erreicht hat, aber sich gleichzeitig auch ärgern. Natürlich war die Chance riesengroß, mal wieder Deutscher Meister zu werden. Wir alle lechzen danach, die Mannschaft ärgert sich auch. Dieses Ärgern kann aber eine riesige Motivation sein, es in der nächsten Saison besser zu machen.
Hat sich Marco Reus durch das Kapitänsamt nochmals vorwärtsentwickelt?
Ja, aber ich glaube, dass es noch wichtiger war, dass er verletzungsfrei durch die Saison gekommen ist. Er ist auch ohne Kapitänsbinde ein Spieler, der vorangeht, der in der Kabine seinen Mund aufmacht und die anderen Spieler bei der Ehre packt. Natürlich gibt ihm diese Binde vielleicht noch etwas mehr Wertschätzung, aber es hätte auch ohne funktioniert. Marco ist dabei, an seinem Leistungsoptimum zu kratzen. Wenn man Deutscher Meister werden will, braucht man Marco Reus in dieser Form. Er schießt nicht nur Tore, sondern entscheidende Tore - das ist eine Qualität.
Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke hat am vergangenen Dienstag den Angriff auf den FC Bayern München ausgerufen ...
Ich persönlich finde das eine überragend starke Aussage. Aki wusste da natürlich schon, was kommt - ein paar Stunden später wurden die Transfers von Hazard und Brandt bekanntgegeben. Beim Trainingsauftakt Anfang Juli weiß jeder, wo er dran ist. Nicht nur die Spieler, sondern jeder Mitarbeiter. Das muss man ab dem ersten Tag mit Leben füllen. Klare Ziele zu formulieren, das brauchen die Jungs. Es nimmt uns ja auch keiner ab, wenn wir sagen: Jetzt halten wir den Ball flach.
Schulz, Hazard, Brandt. Warum machen diese Transfers Sinn?
Die Mischung in der Mannschaft ist überragend. Man hat erfahrene Spieler wie Marco Reus, Axel Witsel, Thomas Delaney und Roman Bürki - sie geben der Mannschaft Struktur und Halt. Dann hat man die neuen Spieler, die Entwicklungspotenzial haben und an ihrem Leistungsmaximum kratzen werden in den nächsten Jahren. Und du hast die jungen Spieler wie Sancho, Akanji, Hakimi, Bruun Larsen – das ist eine tolle Mischung. Diese Mannschaft hat jetzt schon etwas erlebt, auch eine Enttäuschung schweißt zusammen. Man hat positive und negative Erfahrungen gemacht, daraus entwickelt sich ein klassisches Teambuilding. Das wird eine ganz spannende Saison 19/20.
Benötigt der BVB neben Alcacer und Götze noch einen wuchtigen Stürmer?
Wir haben ja schon etwas Torgefahr auf dem Platz. Und wir haben ja auch nicht das Spielsystem, dass man die Flanken aus 30 Metern reinhaut und ein Typ Jan Koller köpft die dann rein. Unser Spiel ist schon etwas anders aufgebaut. Und dass man auch damit erfolgreich spielen kann, hat diese Saison gezeigt.

Alexander Isak spielte bei Willem II eine starke Rückrunde. © imago
Alexander Isak wurde in der Rückrunde an Willem II verliehen. Bekommt er im Sommer eine neue Chance?
Er hat in Holland gut performt. Ich weiß aber nicht, wie die Personalplanung bei den Profis aussieht. Ob man sagt: Er ist eine richtige Alternative zu Alcacer und Götze. Oder ob man ihn vielleicht noch ein Jahr ausleiht. Denn: Er ist ein sehr junger Spieler. Wenn er bei uns auf der Bank sitzt, macht es uns keinen Spaß, dem Spieler keinen Spaß und es wäre für seine Entwicklung nicht gut. Das ist eine extrem schwierige Entscheidung.
Aber Isak zeigt in Holland derzeit, dass er weiß, wo das Tor steht ...
Ja, aber manchmal funktioniert es einfach nicht. Ciro Immobile ist auch so ein Beispiel. Das hat damals überhaupt nicht funktioniert. Dann geht er wieder nach Italien und schießt dort und in der Nationalmannschaft alles klein. Das passiert halt mal. Aber wir haben einen sehr hohen Prozentsatz an funktionierenden Transfers. Und die anderen gehen ja auch nicht für null Euro wieder weg. Solche Fälle wie Immobile und Isak zeigen aber, dass man auch hier prinzipiell nicht danebengelegen hat.
Kommen wir zum Jugendbereich: Welche Aufgaben haben Sie als Nachwuchskoordinator?
Ich bin dafür verantwortlich, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit unsere Spieler und Trainer gut und erfolgreich arbeiten können. Darüber hinaus muss und darf ich viele Vertragsgespräche führen. Wir können und müssen ab der U15 Verträge mit unseren Spielern machen. Mitunter sind in dieser Altersklasse mehr Scouts als Eltern bei einem Spiel. Fast jeder Spieler hat spätestens ab der U16 einen Berater. Das sind häufig dann zwei, drei Gesprächen. Es geht ja nicht nur um den Fußball, sondern auch um die Schule.
Bekommen ausländische Talente eine besondere Betreuung?
Uns ist wichtig, dass wir von vornherein den einen Spieler finden, der es schafft. In der Vergangenheit waren das Jacob Bruun Larsen, Christian Pulisic und Orel Mangala. Aktuell haben wir einen Niederländer (Immanuel Pherai, Anm. d. Red.) und einen Franzosen (Kamal Bafounta, Anm. d. Red.). Wir gehen da sehr selektiv vor, weil wir eine soziale Verantwortung haben. Wenn diese Spieler zu uns kommen, brauchen sie eine 1:1-Betreuung. Ab dem ersten Tag bekommen sie intensiven Deutschunterricht, das ist für die Integration extrem wichtig.

Hoffnungsvolles Talent in der BVB-U19: Immanuel Pherai. © imago
Im Sommer kommt es im Jugendbereichen zu einigen personellen Veränderungen, angefangen mit der Installation der Ex-Borussen Michael Skibbe und Otto Addo …
Da schließt sich ein bisschen der Kreis: Michael Skibbe hat mich damals als Nachwuchskoordinator zum BVB geholt. Eddy Boekamp war damals mein Trainer und ist inzwischen Sportlicher Leiter im Jugendbereich. Es gibt eine kleine Philosophieveränderung: In der Vergangenheit war es so, dass wir offene Stellen oftmals intern besetzt haben. Aber ich wollte mich nicht für Externe verschließen. Mit Michael Skibbe haben wir jetzt praktisch einen Externen, aber ich weiß, was ich von ihm bekomme - sowohl fachlich als auch menschlich. Gerade im U19-Bereich ist es wichtig, das die Jungs einen Trainer vor sich haben, der weiß, was ganz oben gefordert ist. Michael war sieben Jahre lang Nationaltrainer, hat acht Erstligisten trainiert. Mit Otto Addo haben wir noch einen sogenannten Übergangstrainer verpflichtet, da wissen wir auch, was wir bekommen. Er wird zwischen U19, U23 und Profis angesiedelt sein, um da eine bessere Kommunikation zu haben und die top-talentierten Spieler noch besser betreuen zu können. Michael Skibbe hat Otto Addo damals zum BVB geholt - von daher weiß ich, dass sie eng zusammenarbeiten werden.
Es läuft ja jetzt schon gut im Nachwuchsbereich des BVB. Die U19 steht erneut im Finale um die Deutsche Meisterschaft. Muss die Konkurrenz jetzt Angst bekommen?
Es ist unser Anspruch, nicht zufrieden zu sein, uns weiterzuentwickeln und nicht auf neue Herausforderungen zu warten, sondern sie zu suchen. Wir sind in den letzten fünf Jahren fünf Mal Deutscher Meister geworden - entweder mit der U17 oder der U19. In den letzten vier Jahren standen wir mit der U17 und U19 jeweils in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft. Das ist herausragend, das wird es wohl nie wieder im Deutschen Jugendfußball geben. Aber darauf wollen wir uns nicht ausruhen.
Youssoufa Moukoko ist ein Riesentalent, er schießt in der Junioren-Bundesliga jeden Gegner ab. Was ist von ihm in Zukunft zu erwarten?
Eigentlich will ich gar nicht über ihn reden. So ein 14-Jähriger sollte ein Recht auf Anonymität haben. Aber damit kommt man in seinem Fall natürlich nicht lange durch. Youssoufa mussten wir nicht entdecken, den kannte in Deutschland jeder. Schon bei St. Pauli hat er alles kurz und klein geschossen. Sein Berater ist explizit auf uns zugekommen, weil er unsere Jugendarbeit kennt und meinte: Ihr seid der richtige Verein, um den Jungen in seiner Entwicklung zu begleiten.
Und wie schafft man es bei all dem Hype, ihn behutsam zum Profi aufzubauen?
Der Hype um ihn ist unglaublich. Neulich hat die U17 in Hennef gespielt. Nach dem Abpfiff sind 100 Kids auf den Platz gestürmt und wollten ein Selfie mit ihm machen. Es ist ein ganz enges Zusammenspiel zwischen unserer Medienabteilung, seinem Berater und seinen Eltern. Den Eltern ist es extrem wichtig, dass da Ruhe hineinkommt. Sie haben gesagt, er soll sich auf die Schule konzentrieren. Deshalb wird er auch erstmal nicht in der deutschen Nationalmannschaft spielen. Das ist nicht unsere Entscheidung. Neulich war die U17-Europameisterschaft. Ich hätte gesagt: Soll er doch mitspielen. Die Eltern aber sagen: Er soll nicht so oft in der Schule fehlen. Das ist extrem verantwortungsvoll.
Und wie reagiert Youssoufa?
Er ist total engagiert, motiviert, hat Bock, kommt mit einem Lächeln zum Training und hat eine unglaubliche Spielfreude – trotz allem, was medial um ihn herum passiert. Heutzutage wird jedes Spiel der Junioren mit zig Kameras aufgenommen. Später schicken wir jedem der Jungs ausgewählte Szenen von sich aufs Handy, die sie sich angucken sollen, um sich zu verbessern. Und wir können natürlich auch sehen, wer sich das Video wann angeguckt hat. Der Erste, der sich das Video immer anguckt, ist Youssoufa. Und wenn das Video nicht rechtzeitig da ist, ruft er den Trainer an und fragt nach, wann es kommt.

Youssoufa Moukoko trifft in der U17 nach Belieben. © imago
Heißt: Wenn er fokussiert bleibt, bringt er alles mit, um es zum Profi zu schaffen?
Wir alle wollen immer schnelle Entwicklungen sehen. Aber auch diesem Jungen müssen wir so viel Zeit geben wie nötig. Ich habe schon vielen Leuten erklärt: Youssoufa wird Nuri Sahin nicht als jüngster Spieler ablösen. Das geht leider nicht. Er muss noch zwei Jahre warten, bis er bei den Profis spielen kann. Seine Entwicklung ist fantastisch. Aber es dauert eben noch. Und auf diesem Weg wollen wir ihm alles mitgeben – sowohl schulisch, persönlich als auch sportlich. Die Art und Weise wie er das annimmt, ist einfach toll.
Auf dem Trainingsgelände in Brackel wird gerade viel gebaut. Was verspricht sich der BVB davon?
Wir waren mal Vorreiter, was unser Nachwuchs-Leistungszentrum anging. Heutzutage konkurrieren wir aber nicht mehr nur national, sondern international. Manchester hat ein Leistungszentrum für 300 Millionen Euro gebaut. Das wollen wir nicht. Aber wir wollen ein kleines, hocheffektives Leistungszentrum sein. Wir bauen ein neues Bürogebäude. Die Trainer haben bislang nur ihre Trainerkabine, da kannst du nicht in Ruhe arbeiten. Dann erweitern wir unser Jugendhaus, wo derzeit 22 Spieler leben können, auf 50 Plätze und bauen eine Kantine. Nicht, damit wir noch mehr Spieler verpflichten können. Sondern damit die Spieler, für die es sich nach der Schule nicht lohnt nach Hause zu fahren, direkt zu uns kommen können – und nicht etwa in der Stadt rumlungern müssen. Es wird also eine Art Tagesinternat. Und dann bauen wir noch mehr Fußballplätze, eine Sporthalle und einen Athletik-Bereich.
Die Nachwuchstalente des BVB betreiben einen hohen Aufwand …
Ein Jugendspieler von Borussia Dortmund, der nicht bei uns im Jugendhaus wohnt, steht zwischen 6.30 und 6.45 Uhr auf, geht dann bis 14, 15 oder 16 Uhr zur Schule. Um 18 Uhr beginnt das Training, zwischen 20.30 und 21 Uhr ist er dann wieder Zuhause. Das Ganze macht er fünf Mal die Woche. Am Wochenende steht dann noch das Spiel an. Heißt: Die Jungs haben 70- bis 80-Stunden-Wochen, das ist ein extrem hoher Aufwand. Und mit der U19 spielen wir in der Youth League, der Champions League für den Nachwuchs. Da fliegt man Montagmorgens schon mal nach Israel, spielt am Dienstagabend gegen Maccabi Haifa, ist Mittwochnacht um 24 Uhr zurück am Trainingsgelände in Brackel – und dann gucken dich die Spieler mit großen Augen an und fragen: Müssen wir morgen zur Schule. Und die Antwort lautet: Ja, natürlich müsst ihr morgen um 8 Uhr zur Schule. Die Profis hingegen können dann ausschlafen.
Das hat auch viel mit Verzicht zu tun …
Hunderprozentig. Wir reden ja auch immer viel über Persönlichkeitsentwicklung. Aber bei dem Tagesablauf: Wo haben die Jungs, außerhalb vom Fußball, überhaupt noch Zeit, ihre Persönlichkeit zu entwickeln? Das ist ein großes Problem.
Sascha Klaverkamp, Jahrgang 1975, lebt im und liebt das Münsterland. Der Familienvater beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit der Sportberichterstattung. Einer seiner journalistischen Schwerpunkte ist Borussia Dortmund.

Premium-Jahrgang 1981. Besetzte im Mittelfeld von Rot-Weiß Unna die Acht, bevor die Position überhaupt erfunden wurde. Studium der Germanistik und Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, anschließend ablösefreier Wechsel zu Lensing Media. Im BVB-Team polyvalent einsetzbar.

2014 als Praktikant in der Sportredaktion erstmals für Lensing Media aufgelaufen – und als Redaktionsassistent Spielpraxis gesammelt. Im Oktober 2017 ablösefrei ins Volontariat gewechselt und im Anschluss als Stammspieler in die Mantel-Redaktion transferiert. 2021 dann das Comeback im Sport, bespielt hauptsächlich den Kreis Unna.
