Hat da auf der Tribüne gerade wirklich der Beton gebebt? Da, schon wieder. Oder war es einfach das Ergebnis der schieren Reizüberflutung, des unfassbaren Lärms im Stadion-Karrée, des Fan-Sturms auf den Rasen, der überbordenden Freude allerorten? An diesem 17. Juni 1995 brach aus den Anhängern von Borussia Dortmund die aufgestaute Sehnsucht aus 32 Jahren ohne Deutsche Meisterschaft heraus, sie hüpften, sprangen, sangen. Sie lachten und weinten, Emotion. Und der Beton bebte – tatsächlich!
BVB-Samba auf dem Rasen
Im Mittelkreis fielen sich Andreas Möller, Michael Zorc und Ibrahim Tanko in die Arme, wollten sich gar nicht mehr loslassen, Trainer Ottmar Hitzfeld, wie immer im hellen Trenchcoat, schüttelte mit Tränen in den Augen immer wieder seine Siegerfäuste, und der brasilianische Abwehr-Koloss Julio Cesar empfing, mit weißem Stirnband und einem breiten Grinsen ausgestattet, noch auf dem Rasen eine leichtbekleidete Samba-Gruppe – so sehen Sieger aus.
Es war das große Finale einer nervenaufreibenden Spielzeit 1994/95, und kein Dramaturg hätte ein besseres Drehbuch schreiben können - und im Nachhinein betrachtet war es der Beginn einer besonderen Reise für die Borussia. Die Ausgangslage: Die Schwarzgelben hatten mit 47:19 Punkten aus 33 Meisterschaftsspielen eine sehr gute Saison gespielt und lagen hinter Werder Bremen (48:18 Punkte) auf dem zweiten Platz. 21 Spieltage war der BVB an der Spitze, Werder übernahm dann aber am 29. Spieltag die Führung.
Die Borussia musste im letzten Match gegen den Hamburger SV gewinnen und gleichzeitig Bremen bei den Bayern in München straucheln. Ein Dortmunder Sieg mit zwei Toren Differenz, dann würde ein Unentschieden der Bremer in München zum Titel reichen. In der City hatten sich 50.000 vorfreudige BVB-Fans vor einer riesigen Leinwand versammelt, sie hatten keine Karten mehr bekommen, und im Stadion sangen sich 42.600 Fans warm – 11.000 weniger als normal, aber die Nordtribüne war wegen des Ausbaus eine Baustelle.
BVB-Fans schon vor dem Anpfiff in Topform
Trainer Hitzfeld hatte die Seinen eingeschworen, man müsse zunächst einmal selbst alles Nötige tun, am liebsten durch frühe Tore, bevor man gen München blicke. Kleine Schmonzette am Rande: Werder-Coach Otto Rehhagel hatte bereits einen Vertrag in München unterschrieben und reiste nun also mit den Bremern zu seinem künftigen Arbeitgeber, der ihm im schlechtesten Falle den Meister-Jubel vermasseln konnte.

Die schwarzgelben Fans waren schon weit vor dem Anpfiff in Meisterform – den Kickern auf dem Rasen war die Bedeutungsschwere anzumerken, sie wirkten anfangs noch etwas verkrampft, aber Supertechniker Andy Möller löste in der 8. Minute den ersten Knoten, als er einen Freistoß an der HSV-Mauer und Torwart Richard Golz vorbei in die Maschen zwirbelte. Kurz darauf verbreitete sich an den Radiogeräten die Kunde aus München: „Bayern führt!“
BVB-Youngster Ricken beseitigt die Zweifel
20 Minuten nach der BVB-Führung landete eine von Stefan Reuter präzise geschlagene Flanke bei Lars Ricken, dem Youngster für die wichtigen Tore, und der ließ sich per Kopf nicht lange bitten – 2:0. Der Jubelsturm auf den Tribünen nahm bereits Orkanstärke an. In Dortmund sollte es bei diesem Ergebnis bleiben – und die Bayern gewannen, obwohl Mario Basler zwischenzeitlich für die Bremer zum 1:1 ausgeglichen hatte, am Ende durch den doppelt treffenden Alexander Zickler mit 3:1 und spielten ausnahmsweise einmal für die Borussia den Meister-Macher.

Schon weit vor dem Abpfiff war auf den Dortmunder Tribünen die Hölle los, ein einziger Rausch, und am Seitenrand tanzten die allesamt am Kreuzband verletzten Flemming Povlsen, Stephane Chapuisat und Karlheinz Riedle eine Krücken-Polka.
Meister 1994/95! Zum vierten Mal in ihrer Vereinsgeschichte holte die Borussia die Schale in den Pott, und das Stadion wurde zum Tollhaus. Der Kapitän und spätere langjährige Sportdirektor Michael Zorc erinnerte sich später an die überbordende Freude des Moments: „Das war eine Explosion der Gefühle, weil es die erste Meisterschaft nach sehr langer Zeit war.“ 32 Jahre, das ist wahrlich sehr lang.
BVB-Kapitän Zorc lobt Hitzfeld
Zorc, der am Ende seiner Spielerlaufbahn 463 Bundesligaspiele nur für seinen BVB würde absolviert haben, ließ ein wenig ins Innere der Meister-Mannschaft schauen, als er sagte: „Das war eine Mannschaft, in der es durchaus Reibereien gab – aber dem Erfolg wurde alles untergeordnet. Ottmar hat das sehr gut moderiert, das hat sehr gut zusammengepasst.“

Am nächsten Tag werden einige Münchner Fußball-Freunde neidisch nach Westfalen geschaut haben, denn ganz Dortmund, und das ist wörtlich zu nehmen, war in Schwarz und Gelb gehüllt. Eine Stadt im Ausnahmezustand. Der Autokorso vom Borsigplatz bis zur Innenstadt faszinierte fast 500.000 Menschen. Mit dem wehmütigen Trude-Herr-Song „Niemals geht man so ganz“ wurde dann auch der sympathische Dänen-Stürmer Flemming Povlsen offiziell verabschiedet.
BVB-Titel ein Sinnbild für Durchhaltevermögen
Das Dortmunder Fanzine „schwatzgelb.de“ schrieb später: „Es war das ekstatische Entladen einer Spielzeit, die in puncto Spannung und Dramatik bis heute als BVB-Fan unerreicht geblieben ist. Und bis heute ein Sinnbild dafür, dass man nie aufgeben darf im Fußballsport. Auch nicht innerhalb eines Wettbewerbs. Egal wie die Situation erscheint, es bleibt bis zum Ende immer alles möglich. Und man muss die Chance selbst beim Schopfe packen und mutig voran gehen.“
Es klingt heute wie ein Appell an die aktuelle Kicker-Generation 2023/24. Weitermachen, denn aufgeben ist keine Option.
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