
Ehre, we, Ehre gebührt: Niklas Süle schickt BVB-Stürmer Anthony Modeste vor die Südtribüne. © dpa
BVB-Eskalation in der Nachspielzeit: Modeste vom Pechvogel zum Helden
Borussia Dortmund
Der BVB legt gegen den FC Bayern München nach durchwachsenen 70 Minuten ein mitreißendes Finish hin. Anthony Modeste avanciert vom Pechvogel zum Helden.
Wer wissen will, warum dieser Sport so berauschend sein kann, mit so großen emotionalen Ausbrüchen in alle Richtungen, der hätte sich im Tollhaus Signal Iduna Park einen wunderbaren Anschauungsunterricht verschaffen können. 70 Minuten lang präsentierte sich Bayern München im Topspiel als das reifere und vor allem effizientere Team, in der Schlussphase drehte Borussia Dortmund ein am Ende spektakuläres Gipfeltreffen mit Herz und jeder Menge Energie. Das 1:2, nicht zufällig von Youssoufa Moukoko erzielt, mobilisierte nicht mehr vorhanden geglaubte Lebensgeister.
Anthony Modeste bringt das BVB-Stadion zum Beben
Und dann die absolute Eskalation am Ende der Nachspielzeit: Anthony Modeste, ausgerechnet Anthony Modeste köpfte vor der Südtribüne zum Ausgleich ein. Die Fundamente des Stadions bebten, Erinnerungen an einen ähnlichen Verlauf mit dem spektakulären Ende von Felipe Santana gegen Malaga wurden wach. Es war ein mitreißendes Finish nach einer Partie, in der die Bayern lange die Kontrolle hatten und wie der sichere Sieger aussahen.
Und wo Topspiel draufstand, war zunächst Hektik und Härte drin. Nach 13 gespielten Minuten hatte Schiedsrichter Deniz Aytekin schon drei Mal die Gelbe Karte gezückt, Bayerns Marcel Sabitzer sah sie nach 95 Sekunden, als er hart gegen Donyell Malen einstieg. Auch Matthijs de Ligt (kam gegen Jude Bellingham zu spät) und Bellingham (Foul an Jamal Musiala) kamen nicht ungeschoren davon. Dass der BVB nicht zurücksteckte, honorierten die Fans bei jedem gewonnenen Zweikampf mit Applaus, nur blieb dabei das auf der Strecke, was sich die Anhänger auch erhofft hatten: spielerische Finesse und vor allem Torchancen.
Der BVB erarbeitet sich ein leichtes Übergewicht – Bayern trifft
Zwei waren es Ende der ersten 45 Minuten, die Bayern hatten gar nur eine, weil auch sie es selten schafften, den Ball gut durch die eigenen Reihen laufen zu lassen. Das Problem für die Borussia: diese eine genügte dem Rekordmeister, um 1:0 in Führung zu gehen. Ein Gegentor nicht ohne Mithilfe des BVB, der außen durch Niklas Süle zu passiv gegen Passgeber Musiala agierte und im Zentrum knapp 20 Meter vor dem Tor Leon Goretzka auch noch sträflich frei ließ. Dessen verdeckter Flachschuss war von Alexander Meyer erst spät zu sehen – und nicht zu halten (34.).
Das 0:1 fiel ausgerechnet in einer Phase, in der sich Dortmund ein leichtes Übergewicht erarbeitet hatte. Im 4-3-2-1 mit der Premiere von Süle als Rechtsverteidiger für den kurzfristig ausgefallenen Thomas Meunier arbeitete sich der BVB über eine dichte defensive Staffelung nach vorne, wo Youssoufa Moukoko als Wandspieler einige Bälle gut behauptete – Malens Schuss freilich nach Steckpass von Julian Brandt landete direkt bei Neuer (34.), der fulminante Linksschuss von Raphael Guerreiro kurz zuvor forderte den Nationalkeeper da schon eher (31.).
BVB-Innenverteidiger Mats Hummels muss ausgewechselt werden
Mit dem Führungstreffer untermauerte der Rekordmeister seine jüngst wiedergewonnene Effizienz vor dem gegnerischen Tor, der BVB musste sich nach dem Rückstand erst einmal sortieren. Aufregung gab es kurz vor der Pause, als Bellingham Anphonso Davies mit der Fußspitze im Gesicht traf, eher kein Foul und eine unglückliche Aktion, die die Partie für den Bayern-Linksverteidiger allerdings früh beendete – mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ging es noch in der Pause in eine Dortmunder Klinik. Auch der BVB musste zur Pause wechseln, Mats Hummels, gerade rechtzeitig fit geworden, meldete sich mit Kreislaufproblemen ab.
Die bekamen nach Wiederanpfiff auch seine Kollegen in der Abwehr, als sie Leroy Sane nicht energisch genug angriffen, im Tor machte auch Kobel-Vertreter Meyer keine gute Figur. Den Schuss des Münchners fälschte er unglücklich ins Tor ab. Das 0:2 (53.) sorgte für Ernüchterung, auf den Rängen wie auf dem Feld. Der eingewechselte Wolf hatte sich gleich nach Wiederbeginn mit einem Schuss knapp über das Tor angemeldet, nach dem zweiten Gegentor aber wurde Dortmunds Spiel wieder deutlich unsauberer, die Bayern waren Herr über die Räume und die Zweikämpfe. Der Körperlichkeit der Bayern hatte der BVB zu wenig entgegenzusetzen.
Youssoufa Moukoko haucht dem BVB neues Leben ein
BVB-Trainer Terzic reagierte, brachte für mehr Tempo zunächst Karim Adeymi und dann auch noch als Brecher Anthony Modeste. Und es war der bislang so glücklose Stürmer, der Dortmund mit einem schönen Laufweg und dann dem Auge für den mitgelaufenen Moukoko wieder ins Spiel brachte. Halb im Fallen platzierte der 17-Jährige den Ball ins Eck, mit dem 1:2 (74.) war plötzlich alles wieder möglich.
Das Tor brachte auch die Kulisse wieder auf die Beine, die ihre Elf nun frenetisch unterstützte – und den Jubelschrei auf den Lippen hatte, als sich Adeyemi außen gegen Stanisic durchsetzte, den Spurt ansetzte und den Ball dann perfekt vor die Füße von Modeste legte. In Rückenlage schoss sich der Franzose gegen das eigene Bein, Neuer konnte den Ball aufnehmen (83.).
Anthony Modeste belohnt den BVB in der Nachspielzeit
Doch der Glaube an eine späte Wende war spürbar beim BVB, der die letzten Kräfte mobilisierte. Endlich war es ein hochklassiger Abtausch, die Intensität nahm noch einmal deutlich zu. Und die vierminütige Nachspielzeit musste der Rekordmeister in Unterzahl überstehen: Coman, schon verwarnt, hielt Adeyemi, der starke Schiedsrichter Deniz Aytekin schickte den Münchner zum Duschen.
Der Boden für ein besonderes Finale war bereitet. Keeper Meyer ging bei jeder Standardsituation mit nach vorne, im Bayern-Strafraum brannte es lichterloh. Und dann der letzte Angriff, die Nachspielzeit war eigentlich schon abgelaufen: Adeyemis langer Ball in den Strafraum segelte eigentlich zu weit, Nico Schlotterbeck rettete die Kugel mit einer beherzten Grätschte – und hatte dann noch das Auge für Modeste, der am langen Pfosten frei einköpfte. Das Stadion explodierte förmlich, mit Herz und jeder Menge Kampfgeist hatte der BVB die drohende Niederlage noch abgewendet.
Dirk Krampe, Jahrgang 1965, war als Außenverteidiger ähnlich schnell wie Achraf Hakimi. Leider kamen seine Flanken nicht annähernd so präzise. Heute nicht mehr persönlich am Ball, dafür viel mit dem Crossbike unterwegs. Schreibt seit 1991 für Lensing Media, seit 2008 über Borussia Dortmund.
