Als er den Rasen betritt, weiten sich die Auge von Uri Libstein. Sie werden größer und größer. Der Signal Iduna Park, er brodelt. Die Südtribüne ist längst voll, die Lautstärke, die von ihr ausgeht, ist ohrenbetäubend. Blickt sich der Neunjährige nach rechts um, dann sieht er sie – die Gelbe Wand. Ein breites Lächeln bahnt sich seinen Weg übers ganze Gesicht des Jungen. In diesem Moment, wenige Minuten vor dem Anpfiff des BVB-Heimspiels gegen Bayern München, ist das Grauen der vergangenen Tage kurz vergessen.
BVB-Heimspiel sorgt für unbeschwerte Augenblicke
Es ist der vielleicht erste unbeschwerte Augenblick für den jungen Israeli, der bei den Angriffen der Hamas am 7. Oktober seinen Vater, einen Bruder und seine Großmutter verloren hat. Am vergangenen Wochenende – knapp einen Monat nach dem grauenvollen Massaker – ist er gemeinsam mit seiner Mutter Vered und seinen zwei Brüdern auf Einladung des Fanclubs Israelische Borussen in Dortmund. Es sind insgesamt 14 Menschen, davon elf Kinder und Jugendliche. Sie alle haben bei den Angriffen Angehörige verloren. Nun sollen sie auf andere Gedanken kommen, einmal abseits von Krieg und Bombenalarm ein paar Tage durchatmen.
Dieser Junge verlor seine Großmutter, seinen Vater und seinen Bruder bei dem Massaker vom 7.10.
— Israelische Borussen (@bvb_israel) November 4, 2023
Heute stand er mit uns auf dem Spielfeld.
weitere 13 Überlebende standen zusammen auf der Tribüne.
manchmal ist das Ergebnis nicht interessant. Heute ist so ein Tag. pic.twitter.com/t2wp5kCzUB
„Es war eine aufregende Erfahrung. Zum ersten Mal seit dem 7. Oktober fühlte man sich plötzlich für einen Moment wie ein gewöhnlicher Mensch, der leidenschaftlich gern Fußball schaut, auf Reise ist und lacht. Und es herrschte auch ein viel ruhigeres Gefühl, ohne Angst vor Raketenalarm“, sagt Vered Libstein, die Mutter des kleinen Uri, die ihren Sohn nach Dortmund begleitet hat, im Gespräch mit den Ruhr Nachrichten.
Vered Libstein erlebt Terrorangriffe der Hamas hautnah
Die 49-Jährige hat mit ihrer Familie bis zum brutalen Überfall der Hamas in Kfar Aza gelebt. Der Kibbuz liegt sehr nah an der Grenze, nur rund zwei Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt. Am 7. Oktober ermorden die Terroristen ihre Mutter Belha und ihren Sohn Nitzan. Der wohnt in einem Jugendhaus in der Nähe seiner Eltern und flüchtet zu Beginn der Attacken in einen Bunker. Doch drei Schüsse durchdringen die dicke Eisentür, treffen ihn in den Oberschenkel. Nitzan verblutet. Vered flüchtet mit ihren drei anderen Söhnen – darunter Uri, ihr Jüngster – ebenfalls in den Bunker ihres Hauses. 30 Stunden harren sie dort aus und überleben.

Ihr Mann Ofir greift dagegen zur Verteidigung des Dorfes zu den Waffen. Er wird erschossen. Seine Familie findet ihn zehn Meter vom eigenen Wohnhaus entfernt. „Man hat in ihren Augen sehr viel Schmerz und Leid gesehen“, sagt Adam Lahav über Vered Libstein. Der Gründer und Vorsitzende der Israelischen Borussen hat den Besuch der Gruppe in Dortmund maßgeblich mitorganisiert und betreut seine Landsleute während ihrer Zeit in Deutschland.
BVB und jüdische Gemeinde spenden Trost
Gemeinsam mit der Fanabteilung und der Abteilung Corporate Responsibility von Borussia Dortmund haben sie ein abwechslungsreiches Programm für ihre Gäste aus Israel auf die Beine gestellt. Die erleben eine Stadiontour und erkunden das Borusseum. Auf dem BVB-Trainingsgelände in Brackel dürfen die Kinder den Footbonauten ausprobieren und treffen den eFootballer Roee Feldmann. Sie treffen den israelischen Botschafter Ron Prosor und sprechen mit der jüdischen Gemeinde Dortmund das Schabbat-Gebet.

„Man hatte das Gefühl, dass die Menschen in Dortmund wirklich an uns interessiert waren, an dem, was wir durchgemacht hatten, und dass sie es uns leichter machen wollten“, sagt Vered Libstein. Der Höhepunkt des Besuchs ist schließlich das Bundesliga-Topspiel des BVB gegen den FC Bayern. Ihr jüngster Sohn Uri steht vor dem Anpfiff gemeinsam mit Adam Lahav auf dem Platz. Leuchtende Augen auf dem Rasen, leuchtende Augen beim Rest der Gruppe auf der Tribüne. Dass der BVB mit 0:4 verliert, ist Nebensache.
Familie kann nicht nach Hause zurückkehren
Am nächsten Tag geht es zurück nach Israel. Nicht zurück in die Heimat. Das Dorf Kfar Aza ist durch die Angriffe fast vollständig zerstört. Vered Libstein und ihre Söhne leben vorübergehend in einer Unterkunft in Netanja. Demnächst sollen sie in ein provisorisches Container-Dorf umziehen. Es wird noch mindestens ein Jahr dauern, bis sie dahin zurückkehren können, was einmal ihr Zuhause war.

Die Unbeschwertheit der Auszeit in Dortmund, sie ist längst neuen Ängsten gewichen. „Je länger wir jetzt zurück sind, desto mehr kehren die Sorgen langsam zurück“, sagt Vered Libstein. Sie, die ihren Mann, ihren Sohn, ihre Mutter verloren hat, muss jetzt stark sein. Für ihre Kinder. Es geht nicht anders.
Vered Libstein: „Ich denke, dass jetzt jeder Israeli in Angst lebt“
„Wenn man in Israel lebt und vier Söhne hat, denkt man immer darüber nach, was passieren würde, wenn ... Trotzdem haben wir uns eine solche Katastrophe nicht vorgestellt. Aber ich hoffe für meine Jungen, die am Leben geblieben sind, dass sie ein glückliches und erfülltes Leben führen würden“, sagt Vered Libstein. Früher habe sie nicht in ständiger Angst gelebt. Das sei nun anders: „Ich denke, dass jetzt jeder Israeli in Angst lebt.“

Angesichts pro-palästinensischer Kundgebungen in Deutschland, auf denen zuletzt IS-Fahnen und Kalifat-Proklamationen zu sehen waren, sagt die 49-Jährige: „Ich weiß, dass das, was wir durchgemacht haben, jeden Teil der westlichen Welt erreichen kann, wenn wir es nicht gemeinsam stoppen. Und ich gehe davon aus, dass die meisten Europäer das bereits verstehen.“ Mitgefühl äußert Libstein unterdessen auch für die zivilen Opfer in Gaza. „Es tut mir leid für jeden, der unschuldig getötet wurde. Doch Israel hat die Bewohner zur Evakuierung aufgefordert und sie gewarnt. Uns hat keiner gewarnt.“
Das Ende eines Traums
An ein schnelles Ende des Krieges glaubt sie nicht. Ihr Mann war Vorsitzender des Regionalrats von Shaar HaNegev. Vor seiner Ermordung war er dabei, einen High-Tech- und Industriepark mit einem Krankenhaus und einer internationalen Universität zu errichten. 10.000 Menschen – auch aus Gaza – sollten dort Arbeit finden. „In zwei Wochen sollte der Grundstein gelegt werden. Doch Ofir wurde ermordet und niemand glaubt, dass der Traum nun weitergeführt werden kann“, sagt Libstein.
Die Zukunft ist Vergangenheit, bevor sie begonnen hat. Vered Libstein und ihre Söhne müssen zunächst die Gegenwart meistern. Die Auszeit in Dortmund hat ihr auf diesem beschwerlichen Weg ein wenig Kraft gespendet.
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