Tagebuch von Lehrer Heinrich Wullhorst Weihnachten 1922 ging in Ottenstein das Licht an

Heinrich Wullhorsts Tagebuch: Weihnachten 1922 ging Ottenstein ans Netz
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Weihnachten 1922. Durch Ottenstein geht ein Strahlen. Denn der Ort bekommt elektrisches Licht. Genau 100 Jahre ist das her. Ulla Abbing vom Heimatverein Ottenstein ist eher zufällig auf diese Information gestoßen. Seit Jahren beschäftigt sich die 64-Jährige mit der Geschichte des Ortsteils und seiner Umgebung.

Ungezählte Aktenordner, Umschläge, Nachlässe, Notizen, Todeszettel und alte Fotografien hat sie durchgearbeitet, geordnet und digitalisiert. Dazu zählen die Aufzeichnungen des ehemaligen Ottensteiner Lehrer Heinrich Wullhorst. Er hatte akribisch Buch geführt über alles, was in Ottenstein passierte. Unter anderem eben auch die Einführung des elektrischen Lichts.

„Mit Weihnachten erhielt unser Ort Ottenstein elektrisches Licht“, schreibt er 1922. Zwölf Jahre zuvor, am 19. November 1910 hatte er bereits notiert: „Zwecks Anlage der für unseren Ort Ottenstein in Aussicht genommenen elektrischen Kraft war heute ein Ingenieur aus Münster hier, der die notwendigen Aufnahmen machte.“ Auch damals zogen sich solche Projekte also schon über Jahre wenn nicht Jahrzehnte hin.

Ulla Abbing mit der Seite des Tagebuchs von Heinrich Wullhorst, auf der sich der entscheidende Hinweis verbarg. Eine einzelne Zeile notierte er zu Weihnachten 1920: "Unser Dorf bekommt elektrisches Licht."
Ulla Abbing mit der Seite des Tagebuchs von Heinrich Wullhorst, auf der sich der entscheidende Hinweis verbarg. Eine einzelne Zeile notierte er zu Weihnachten 1920: "Unser Dorf bekommt elektrisches Licht.“ © Stephan Rape

Damals war es allerdings der Erste Weltkrieg, der die Stromversorgung bis Ottenstein unterbrach: Während beispielsweise Wessum und Wüllen schon 1912 an die überörtlichen Netze angeschlossen wurden und 1915 auch Alstätte folgte, zogen sich die Arbeiten in Ottenstein weiter hin und wurden erst nach Ende des Krieges wieder aufgenommen.

Anfang der 1920er-Jahre berichtete Landrat Felix Sümmermann über die gestiegenen Schulden des Kreises. 4,5 Millionen Mark mussten für die Kriegswohlfahrtspflege gezahlt werden. 3,25 Millionen Mark wurden für Elektrizitätszwecke aufgewendet. Kurze Zeit später folgten Weltwirtschaftskrise und Inflation. 1925 schließlich vermerkt der Ahauser Kreiskalender, dass trotz der sprunghaften Geldentwertung in und um Ottenstein nahezu jeder Bauernhof mit elektrischem Licht und Kraft versorgt werde.

Ottenstein Wiegbold, Blick aus Höhe Gaststätte Lammerding in Richtung St. Georgkirche. Das Bild muss vor 1922 entstanden sein: An den Gebäuden sind noch keine Stromleitungen zu erkennen.
Ottenstein Wiegbold, Blick aus Höhe Gaststätte Lammerding in Richtung St. Georgkirche. Das Bild muss vor 1922 entstanden sein: An den Gebäuden sind noch keine Stromleitungen zu erkennen. © Repro: Heimatverein Ottenstein

Ulla Abbing blättert begeistert durch einen ganzen Stapel von Papieren. Sie hat die originalen Tagebücher von Heinrich Wullhorst Zeile für Zeile abgeschrieben.

Mit gerade 20 Jahren war der in Buer geborene Heinrich Wullhorst 1893 als Lehrer an die Knabenschule nach Ottenstein gekommen. Daneben übte er weitere Ämter aus, war Organist und Dirigent des Cäcilienchors. Auch Küster blieb er in Ottenstein fast 37 Jahre lang. 1934 ging es schließlich auch als „Hauptlehrer“ in den Ruhestand. Bis dahin hatte er unter sieben Schulräten und vier Pfarrern gearbeitet. So ist es zumindest in seiner Todesanzeige vermerkt: Am 21. März 1952 verstarb er.

„Sütterlin“, sagt sie und deutet auf die handschriftlichen Zeilen des ehemaligen Ottensteiner Lehrers. Jene Schrift, die zwischen 1911 und 1941 an allen Grundschulen gelehrt wurde und die heute nur noch schwer zu entziffern ist. „Ich kann sie auch schreiben“, erklärt sie nicht ohne Stolz. Das sei überhaupt ihr Einstieg in die Geschichte gewesen. „Ich hab ein Faible für alte Schriften“, sagt sie.

Heinrich Wullhorst (1873-1952) war von 1893 bis 1935 Lehrer in Ottenstein. Über Jahrzehnte notierte er akribisch alle Ereignisse in und um Ottenstein.
Heinrich Wullhorst (1873-1952) war von 1893 bis 1935 Lehrer in Ottenstein. Über Jahrzehnte notierte er akribisch alle Ereignisse in und um Ottenstein. © Repro: Heimatverein Ottenstein

Von den alten Schriften kam sie zu alten Gebetbüchern, von dort zu alten Aufzeichnungen und schließlich zur Ortsgeschichte. Seit gut zehn Jahren engagiere sie sich beim Heimatverein Ottenstein. Ist dort inzwischen Beisitzerin im Vorstand. Die Stunden, die sie in Geschichte und Quellen investiert, hat sie nie gezählt. „Das läuft so nebenher“, sagt sie lächelnd.

Solche kleinen Puzzlesteine der Geschichte helfen ihr weiter. Beispielsweise kann sie so alte Fotografien aus Ottenstein zeitlich klar eingrenzen: Vor 1922 gibt es keine Stromkabel, dafür die typischen Gaslaternen an den Straßen. Erst mit Einführung der Elektrizität werden Kabel zu den Häusern gelegt.

Hörsteloe kam später ans Netz

Aber schon vor 1922 gab es Strom in Ottenstein. Er wurde aber nicht zur allgemeinen Beleuchtung, sondern von Firmen und Fabriken lokal erzeugt und genutzt. Auch das hatte Heinrich Wullhorst notiert: „Im Laufe des Januar 1901 erbaute die Spinnerei „Deutschland“ in Ottenstein ein Fabrikgebäude, worin eine Haspelei betrieben werden soll; sie ist berechnet für 20 Stühle mit Motorantrieb.“

Für Ulla Abbing geht die Arbeit weiter. Sie wurde in Hörsteloe geboren. Und sie weiß aus Erzählungen, dass die Bauerschaft noch einmal deutlich später als der Ortskern an das Stromnetz angeschlossen wurde. „Wahrscheinlich erst um 1946“, sagt sie. Belegen kann sie das allerdings noch nicht umfassend. Es gibt ein paar originale Rechnungen über Elektro-Installationsarbeiten und Hausanschlüsse. Die Quellen fehlen ihr. Noch. Denn wer weiß, auf welche Funde sie als nächstes stößt.

Sie arbeitet an einem Buch über die Geschichte aller Höfe und Familien aus Hörsteloe. Wie lange es noch bis zum Erscheinen dauert, kann sie noch nicht sagen. Noch ist es jedenfalls nicht fertig.