Samstagmorgen, 9.30 Uhr. Für die 6-jährige Rieke Fleuth aus Alstätte bedeutet das: therapeutisches Reiten auf dem Haflingerwallach „Smarty“. Rieke hat einen Gendefekt und dadurch Schwierigkeiten beim Lernen. „Sie war zu Beginn mir und dem Pferd gegenüber sehr schüchtern und ängstlich“, erzählt Marlies Oettigmann aus Ahaus.
Sie ist seit 2018 Ausbilderin für Menschen mit Behinderung im Reitsport. „Jetzt erlebe ich Rieke als fröhliches Mädchen, was auch gerne mal Quatsch macht.“ Wir durften Rieke bei ihrer Reitstunde auf dem Hof Börger in Tungerloh-Capellen begleiten.
Mit einem breiten Grinsen betritt die kleine Rieke die Reithalle durch die große Tür. Dicht hinter ihr folgt ihr Papa. Das Lächeln verschwindet auch während der Reitstunde nicht so schnell aus Riekes Gesicht.
Seit einem Jahr geht sie schon zum therapeutischen Reiten. Eine Zeit, in der sie ihre Angst gegenüber Pferden ablegen und viel Selbstvertrauen gewinnen konnte.
„Am Anfang musste ich mit ihr zusammen auf‘s Pferd, weil sie Angst hatte“, erzählt Alex Fleuth, der Vater von Rieke. Das bestätigt auch Marlies Oettigmann. „Auch gegenüber mir war sie sehr schüchtern, obwohl sie mich schon vom Sehen kannte.“ Dass ihr Papa dann mit auf dem Pferd saß, habe der 6-Jährigen vor allem zu Beginn sehr viel Sicherheit gegeben.
Mehr Selbstvertrauen
„Durch den Gendefekt lernt sie einfach langsamer“, erklärt Alex Fleuth. „Sie ist aber sehr schlau und körperlich nicht eingeschränkt.“ Rieke habe den Gendefekt „16q22.1“. „Der ist so selten, dass es keinen Namen gibt“, erklärt Riekes Mutter, Lena Fleuth. Durch das Reiten sei sie aber lockerer geworden und würde sich auch mehr bewegen.
Auch die Schüchternheit konnte Rieke mehr und mehr ablegen. „Sie ist viel offener geworden, durch das Reiten“, sagt der stolze Papa mit Blick auf seine Tochter, die zu dem Zeitpunkt verschiedene Übungen auf dem Pferderücken macht. Auch ihre Mama stimmt zu: „Ich würde auch sagen, dass ihre Körperhaltung besser geworden ist.“
Turnübungen auf dem Pferd
Marlies Oettigmann berichtet: „Sie kann schon kleine Turnübungen auf dem Pferd, im Schritt reiten, ohne sich festzuhalten und auch traben. Ich erlebe sie jetzt einfach als fröhliches Mädchen.“
Das wird während Riekes Reitstunde sehr deutlich. Auch, dass sie mit Marlies Oettigmann mittlerweile sehr gut aufgetaut ist. Rieke macht während ihrer Reitstunde verschiedene Turnübungen, reitet rückwärts, schmeißt einen Ball in einen Basketballkorb und kegelt. Alles vom Pferderücken aus. Das Therapiepferd Smarty ist dabei sehr entspannt und passt gut auf seine kleine Reiterin auf.

Rieke lacht sehr viel und spricht freudig mit Marlies Oettigmann. Außerdem weiß die 6-Jährige genau, was sie möchte. „Anhalten“, „weiter“ und „Stop“, sagt sie sehr selbstsicher. Smarty gehorcht ihr und trägt sie zuverlässig von Übung zu Übung.
Rieke zeigt auf den Basketballkorb. „Das möchte ich machen“, sagt sie. Und immer dabei: ein schönes, breites Grinsen im Gesicht.
„Rieke bewegt sich wie selbstverständlich auf dem Pferd“, sagt Marlies Oettigmann. „Schau was ich kann“, sagt Rieke oft während der Reitstunde. „Das macht ganz schön viel mit den Kindern“, so die Ahauser Ausbilderin.
Reittherapie
„Beim therapeutischen Reiten muss man beachten, dass es ganz ganz viele verschiedene Krankheitsbilder gibt, auf die man individuell eingehen muss“, erklärt Marlies Oettigmann aus langjähriger Erfahrung. „Kinder oder Erwachsenen können zum Beispiel nicht aufrecht sitzen, verlieren schnell die Balance oder können Entfernungen nicht einschätzen.“ Die Koordination von Armen und Beinen funktioniere oftmals auch nicht.

„Jedes Kind ist einfach anders. Genauso jedes Krankheitsbild“, so die Ahauserin. Es brauche sehr viel Erfahrung, Intuition und Wissen. Nicht nur über Pferde, sondern eben auch über die verschiedenen Krankheiten. „Das ist eine riesengroße Geschichte, die man da abarbeitet.“ Arbeit, die auch Geld kostet.
„Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für das therapeutische Reiten leider nicht“, sagt Lena Fleuth. Die 37 Euro für eine halbe Stunde therapeutisches Reiten muss die Familie selbst tragen.
Pferde unterscheiden nicht
„Pferde unterscheiden nicht, ob ein Mensch eine Behinderung hat oder nicht“, sagt Marlies Oettigmann. Und genau das sei der Grund, warum die Pferde den Kindern so viel Selbstvertrauen und -bewusstsein schenken können.
Außerdem sei das Reiten gut für den ganzen Körper. „Wenn das Pferd sich bewegt, werden dadurch auch die Muskeln des Reiters an- und abgespannt“, erklärt die Ausbilderin. Dadurch würde vor allem der Rumpf stabilisiert.
„Eine Mama hat mir mal gesagt, dass dadurch die Blasenschwäche ihrer Tochter verschwunden ist“, erzählt Marlies Oettigmann über eine weitere Reitschülerin. Zudem fördere das therapeutische Reiten die Balance und das aufrechte Sitzen.
Rieke steigt an diesem Samstagmorgen erschöpft, aber glücklich vom Pferd. Wieder ist für das 6-jährige Mädchen aus Alstätte ein Tag vergangen, an dem sie sich voll und ganz auf sich und Smarty konzentrieren konnte. Ein Tag mit viel Lachen und sicherlich einem weiteren großen Schritt in Richtung mehr Selbstbewusstsein.