Der weißhaarige Mann mit dunklem Lodenmantel und einer schwarzen Aktenmappe unter dem Arm wäre an jenem bewölkten Herbsttag in der Ahauser Fußgängerzone kaum aufgefallen. Hier vor dem Barockschloss in Ahaus aber richten sich etliche Foto- und Fernsehkameras auf ihn.
Wir schreiben das Jahr 1998. Es ist Dienstag, der 27. Oktober. VHS-Direktor Dr. Claus Urban begrüßt im Innenhof des Schlosses den mächtigen Präfekten der römischen Glaubenskongregation im Vatikan: Kardinal Joseph Ratzinger. Sieben Jahre später sollte der Papst werden. Bis zu seinem Rücktritt 2013 war er als Benedikt XVI. das Oberhaupt der katholischen Kirche. Jetzt hat der Tod des emeritierten Papstes weltweit viele Millionen Menschen bewegt.
Und mancher Ahauser richtet den Blick fast 25 Jahre zurück auf das Jahr 1998, als Ahaus gleich zwei Mal im Fokus internationaler Medien lag. Im Frühjahr 1998 sorgten die Castortransporte und die tausendfachen Proteste für Aufsehen. Aus diesem Anlass besuchte auch Angela Merkel, damals noch Bundesumweltministerin, die Stadt.
Im Herbst aber elektrisierte der Theologische Gipfel im Ahauser Schloss die katholische Welt. Prominentester Gast war Kardinal Joseph Ratzinger. Ihm zu Ehren war auch Johannes Rau nach Ahaus gekommen. Der spätere Bundespräsident war damals noch Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen.

Noch zum 20. Jahrestag im Jahr 2018 zeigte sich Claus Urban erstaunt, dass der Kardinal tatsächlich nach Ahaus gekommen ist, um auf dem Theologischen Gipfel mit seinem alten Widersacher Prof. Dr. Johann Baptist Metz zu diskutieren.
Dass der Gipfel in Ahaus stattfand, war Claus Urbans Verdienst. Er gehört dem Freundeskreis des Theologen Metz an, der sich zum 70. Geburtstag „ihres“ Professors etwas ganz Besonderes ausgedacht hatte: den abgerissenen Gesprächsfaden zwischen den früheren Weggefährten Metz und Ratzinger neu zu knüpfen.
Ratzinger hatte inzwischen im Vatikan Karriere gemacht. Aus den alten Professorenkollegen waren längst Konfliktpartner geworden. Urban: „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass Kardinal Ratzinger zusagt – aber wir haben trotzdem eine Einladung nach Rom geschickt.“ Nicht einmal zwei Wochen später lag die Zusage des Kardinals auf dem Tisch.
2018, 20 Jahre nach dem denkwürdigen Treffen in Ahaus, schaute sich Claus Urban mit Hans-Gerd Janßen und Michael Rainer, Cheflektor des Lit-Verlags, im Fürstensaal des Schlosses um. Die beiden gehörten wie Claus Urban zum Freundeskreis Metz. Und alle drei erinnern sich gut an die knisternde Atmosphäre, als Robert Leicht, der Chefredakteur der Wochenzeitung Zeit, den Gipfel und die Diskussion mit dem großen Titel „Vom Ende der Zeit?“ eröffnete.
Viel Prominenz im Publikum
Im Publikum saßen viele prominente Gäste, neben Johannes Rau auch der österreichische Vizekanzler Erhard Busek. Das Podium komplettierten der evangelische Theologe Jürgen Moltmann und die jüdische Religionswissenschaftlerin Evelin Goodman Thau.
Der Fürstensaal konnte das Publikum nicht fassen. Darum wurde die theologische Debatte live auch in die Aula des Alexander-Hegius-Gymnasiums übertragen. Hans-Gerd Janßen wunderte sich nach 20 Jahren noch über die Breitenwirkung, die der Theologische Gipfel damals in Ahaus zeigte – und über das riesige Medienecho.
Dabei ging es um nichts weniger als die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens im dritten Jahrtausend. Den Kern der theologischen Auseinandersetzung beschrieb Michael Rainer so: „Metz ist ein Theologe, der die Welt und das Geschichtliche ernst nimmt. Ratzingers theologischer Blick richtet sich eher aus der Welt hinaus.“
Der Gipfel war keine Eintagsfliege. Aus ihm ging das Ahauser Forum Politische Theologie hervor mit 20 weiteren Treffen in zehn Jahren und vielen illustren Gästen – vom Bundesverfassungsrichter bis hin zum Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche. Michael Rainer: „Mit maßgeblicher Unterstützung von Claus Urban als ,Hausherr‘ haben wir in Ahaus ein neues Format erschaffen, Theologie in ihrer Bedeutung für unsere Zeit kompetent zu reflektieren und gleichzeitig erlebbar zu machen.“
Anfang des Jahres 2022 fiel allerdings ein Schatten auf Benedikts Rolle als Münchener Erzbischof im Umgang mit Missbrauchsfällen. Stefan Jürgens, Leitender Pfarrer der Gemeinden St. Mariä Himmelfahrt Ahaus und Alstätte-Ottenstein bezeichnete vor einem Jahr die Vertuschung durch hohe Funktionsträger als „absolut verantwortungslos“.
Schließlich hätten sie weitere Taten und damit weitere Opfer erst möglich gemacht. Dem emeritierten Papst warf er vor, sich herausreden zu wollen. Ob als Professor, als Kardinal oder als Papst: Joseph Ratzinger sei immer ein idealistischer Theologe gewesen und als Mensch nie in der Realität angekommen, so Stefan Jürgens. Alles, was nicht in sein Kirchenbild passe, habe er ganz einfach ausgeblendet.

2019 ist Johann Baptist Metz, der Begründer der „Neuen Politischen Theologie“ im Alter von 91 Jahren in Münster gestorben. Jetzt folgte der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Alter von 95 Jahren. Damit haben beide Protagonisten des Ahauser Theologischen Gipfels „Vom Ende der Zeit“ das Zeitliche gesegnet.