Kriegsgranate riss spielende Kinder in den Tod Katastrophe vor 79 Jahren in Ottenstein

Explodierende Kriegsgranate reißt spielende Kinder in den Tod
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Sechs Namen stehen auf dem Grabstein. Darüber: „Durch Granatenunglück kamen ums Leben“. Die Geburts- und Sterbedaten weisen darauf hin, dass die dort gemeinsam beerdigten Menschen noch Kinder gewesen sein müssen. Obwohl die Tragödie schon vor fast 80 Jahren passiert ist, sind die Opfer nicht vergessen.

Geschwister und Angehörige erinnern sich noch immer lebhaft an die sieben Jungen, die eines so sinnlosen Todes starben. An einem Nachmittag treffen sich einige von ihnen am Grab. Unter ihnen ist auch Josef Abbing. Er hat die Katastrophe damals verletzt überlebt.

Der Grabstein ist mit den Jahren etwas abgesackt und hat sich nach vorn geneigt. Die Geschwister Terlinde hatten 2023 angeregt, das Grabmal auf eigene Kosten sanieren zu lassen. Alfons Beckmann, Schwager eines der verstorbenen Kinder, hat das Anliegen beim Heimatverein vorgebracht, der das Vorhaben begrüßte. Mit Hilfe von Spenden in Höhe von 550 Euro soll das Vorhaben verwirklicht werden. Die Geschwister Terlinde wollen die restlichen Kosten der Sanierung tragen.

Das Treffen am Grab ihrer verstorbenen Brüder weckt schöne, aber auch schmerzhafte Erinnerungen in den Geschwistern. Die Hinterbliebenen kommen ins Gespräch. Josef Abbing stützt sich auf seinen Gehstock und blickt auf das Grab seiner Schulfreunde, die einen sonnigen Sonntagnachmittag nicht überlebt haben. Er hat diesen Tag noch immer vor Augen.

Fußballspiel in Stadtlohn

Die Luft ist frostig und klar an diesem Nachmittag. An den Straßenrändern liegt Schnee, doch es riecht bereits nach Frühling. Eine Herren-Mannschaft des FC ist am Vormittag zu einem Fußballspiel Richtung Stadtlohn aufgebrochen.

Eine der wenigen Vergnügungen kurz nach Kriegsende. Die Kinder haben heute keine Hausaufgaben. Viele müssen auch nicht zu Hause helfen. Ein paar Jungen haben sich zum Spielen verabredet und streunen nun gemeinsam durch die Straßen.

Die Freundesgruppe, zu der auch Josef Abbing, sein Bruder August und ihre Cousins Heinrich und Bernhard Terlinde gehören, umfasst etwa ein Dutzend Jungen im Alter von acht bis 13 Jahren. Viel gibt es an diesem Sonntag nicht zu tun. Einem der Jungen kommt die Idee, den Fußballern entgegenzugehen, über den Barler Berg bis zur Bundesstraße.

Schnee knirscht unter den Schuhen der Kinder. Vermutungen über den Ausgang des Spiels machen die Runde. Doch der Weg ist weit und schon bald schweifen die Gespräche ab. Am Straßenrand finden sie Stöcke, die sie aufheben und zum Spaß auf die Straße schlagen. Hin und wieder fliegt ein Schneeball und die Kinder albern herum.

Sprung über den Graben

Josef Abbing bleibt bei diesem wilden Spiel etwas zurück. Der Neunjährige fürchtet, von den Stöcken der anderen getroffen zu werden. Bald schon lassen die Kinder die letzten Häuser hinter sich und bewegen sich zwischen brachliegenden Feldern auf der Chaussee Richtung Barle.

„Wenn du es schaffst, über den Graben zu springen, gebe ich dir ein Taschenmesser oder ein Portemonnaie“, fordert ein Junge einen anderen heraus. Gesagt – getan. Der Kleine nimmt die Herausforderung an und springt mit einem langen Satz über den Graben, neugierig beobachtet von den anderen Kindern. Wieder fliegt ein Schneeball.

Der Graben wurde vor Kurzem gesäubert. Altes Laub und Erdklumpen liegen unter dem Schnee am Grabenrand. An einem kahlen Apfelbaum lehnt ein seltsamer Gegenstand, der die Aufmerksamkeit der Jungen auf sich zieht. Was ist das nur?

Ein Kind nähert sich dem recht großen, rostigen Etwas, an dem Erde und Schnee kleben. Er hebt den Gegenstand mit beiden Händen auf und betrachtet ihn. Ein Wimpernschlag nur, der das Schicksal der Gruppe besiegelt. Die anderen schauen zu, als er das Ding auf die Straße wirft. Es handelt sich um eine scharfe Granate aus dem Krieg.

Explosion wie ein Osterfeuer

„Das gab dann ein Feuer wie von einer Explosion. Wie ein Osterfeuer“, Josef Abbings Augen werden für einen Moment starr, als die schrecklichen Bilder zu ihm zurückkehren. Darüber zu sprechen, fällt ihm auch so viele Jahre später noch schwer. Immer wieder stockt ihm die Stimme, während er erzählt. Wer es war, der die Granate geworfen hat, das weiß er nicht mehr.

Das nächste, woran der heute 83-Jährige sich erinnern kann, ist der Anblick der Körper seiner Freunde und seines kleinen Bruders, die von der Wucht der Explosion niedergeworfen auf der Straße liegen. Das viele Blut. Das Chaos.

Irgendwann sieht er in der Ferne einen Mann mit einem Fahrrad auf sich zukommen. Josef kennt den Mann: Es ist Gerhard Feldhaus. „Ich war so froh, dass da einer kam“, sagt er. Der damals Neunjährige nimmt die nächsten Minuten im Schock wie durch einen Nebelschleier wahr.

In der Fahrbahn klafft ein großes Loch. Er begegnet seinem Onkel Johann Terlinde, der in der Nähe wohnt. Dessen Söhne Heinrich (8) und Bernhard (9) liegen tot auf der Straße. Ein Schock für den jungen Vater. Auch Eugen Gerving (9) hat die Explosion nicht überlebt.

Bruder und Cousins sterben

Heinrich (vorne, r.) und Bernhard Terlinde (vorne, l.) mit ihrem Vater Johann Terlinde (hinten, r.) und ihrem Onkel Bernhard Thesing (hinten, l.). Das Foto wurde im Jahr 1941 aufgenommen, als die Jungen erst drei und vier Jahre alt waren.
Heinrich (vorne, r.) und Bernhard Terlinde (vorne, l.) mit ihrem Vater Johann Terlinde (hinten, r.) und ihrem Onkel Bernhard Thesing (hinten, l.). Das Foto wurde im Jahr 1941 aufgenommen, als die Jungen erst drei und vier Jahre alt waren. © privat

Johann Terlinde lädt die leblosen Körper seiner Jungs auf einen Bollerwagen und bringt sie weg, zurück nach Hause. Andere Kinder sind durch die umherfliegenden Granatensplitter teils lebensgefährlich verletzt worden, darunter auch Josef Abbings Bruder, der achtjährige August, der sterbend auf der Straße liegt.

Die Nachricht, dass etwas Schreckliches passiert sei, macht schnell die Runde im Dorf. Menschen strömen zur Unglücksstelle und Hilfe wird organisiert. „An einer Ecke sah ich einen Lkw von Spahn, da standen um die 20 Leute drumherum. Ich stand dahinter. Ich wusste gar nicht, was los war“, erinnert sich Josef Abbing.

Mit dem Laster von Georg Spahn, dessen Sohn Joseph selbst zu den Schwerstverletzten gehört, werden die verwundeten Kinder ins Krankenhaus nach Ahaus gebracht. August Abbing stirbt noch auf der Ladefläche des Lkw. Joseph Spahn (10) wird in der Nacht im Krankenhaus seinen Verletzungen erliegen.

Joseph Abbing macht sich auf den Weg nach Hause, setzt benommen einen Fuß vor den anderen. Als er an einem Laden vorbeikommt, spricht der Besitzer ihn an: „Koopmanns stand da in der Tür und sagte: Junge, do blötts ja!“. Erst da habe er begriffen, dass aus Wunden an seinem Hals das Blut auf seine Kleider sickerte.

Schwer verletzte Kinder

Einige der hinterbliebenen Geschwister und Familienangehörigen sowie der Heimatverein Ottenstein und Steinmetz Markus Kramer am Grabmal für sechs der verstorbenen Kinder.
Einige der hinterbliebenen Geschwister und Familienangehörigen sowie der Heimatverein Ottenstein und Steinmetz Markus Kramer haben sich am Grabmal für sechs der verstorbenen Kinder getroffen. © Anna-Lena Haget

Zu Hause versorgt Josef Abbings Mutter die Verletzungen notdürftig. „Da wurde dann ein Pflaster draufgeklebt und dann war’s gut“, erinnert er sich. Die Granatsplitter in seinem Körper seien erst Jahre später zufällig bei einem Röntgentermin entdeckt worden.

Erst mit der Zeit wird das volle Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Heinrich Kleinpas hat bei dem Granatenunglück ein Bein verloren, sein Bruder Franz Kleinpas büßt einen Finger ein. Auch Karl-Heinz Schmitz wird verletzt, aber sie alle überleben. Gerhard Gerdes und Gerhard Weddewer sind zum Zeitpunkt der Explosion 13 Jahre alt. Auch sie gehören zu den Todesopfern, starben jedoch nach einem schmerzlichen Leidensweg.

Gerhard Gerdes (r.) mit seinen Geschwistern. Er starb erst etwa ein halbes Jahr nach dem Granatenunglück.
Gerhard Gerdes (r.) mit seinen Geschwistern. Er starb erst etwa ein halbes Jahr nach dem Granatenunglück. © privat

Gertrud Gevering, geb. Gerdes, war elf Jahre alt, als ihr großer Bruder am 26. August 1946 starb. Sie erinnert sich an Gerhard als einen lebensfrohen Jungen, dessen Traum es war, eine Schneiderlehre zu absolvieren.

„Er hatte beide Hände und Füße kaputt. Und eigentlich gab es schon eine gute Verbesserung. Er konnte sogar schon wieder ein bisschen laufen“, erinnert sie sich. Er habe sich gefreut, als er wieder eine Nadel anfassen konnte. Doch: „Er hatte Kopfschmerzen. Aber das hat keiner beachtet“.

Öffentliche Trauerfeier

Gertrud Gevering vermutet, dass Granatsplitter in seinen Kopf eingedrungen sind und sich dort festgesetzt haben. Ein ähnliches Schicksal teilte Gerhard Weddewer. Der Jugendliche starb am 4. August 1950 an einer Blutvergiftung als Spätfolge seiner Verletzungen. Zuvor war er fälschlicherweise auf Rheuma therapiert worden, hatte aber auch mehrere Bluttransfusionen bekommen.

Am 14. März 1946, vier Tage nach dem Unglück, befindet sich ganz Ottenstein noch immer in einer Schockstarre. Auf dem Schulhof findet eine öffentliche Trauerfeier statt. Der Pfarrer hält eine kurze Ansprache, die jedoch die verzweifelten Eltern nur wenig zu trösten vermag.

Fünf weiße Särge stehen auf dem Schulhof aufgebahrt. Gertrud Gevering erinnert sich noch genau an den Anblick: „Die Särge wurden dann auf einen Leiterwagen gestellt. Alle nebeneinander. Das war schrecklich“.

Die Anteilnahme für die Familien ist riesig. Fast jeder im Ort kannte die Kinder. Nach der Bestattung singen die Schulkinder ein Lied für ihre Schulkameraden, die so plötzlich aus dem Leben gerissen wurden. Auf dem Friedhof bekommen die ersten fünf Todesopfer eine gemeinsame Grabstelle, in der später auch Gerhard Gerdes bestattet werden wird.

Stele an der Unglücksstelle

Anfang der 1990er-Jahre hat der Heimatverein in Zusammenarbeit mit einigen Schulkameraden der verunglückten Kinder eine Stele am Ort des Unglücks aufgestellt.

Zusammen mit dem Grab erinnert die von Künstler Hubert Janning gestaltete Skulptur an einen der furchtbarsten Tage in der Geschichte Ottensteins. Eine Erinnerung daran, dass ein brutaler und sinnloser Krieg auch nach seinem Ende noch immer unschuldige Opfer fordert.

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Hinweis der Redaktion: Dieser Bericht ist vom 10. März 2024