Werden Kinder Opfer von Gewalt und erfährt das Jugendamt davon, kann es die Kinder aus den Familien nehmen, eine sogenannte Inobhutnahme. 60 Hinweise auf solche Fälle sind 2024 beim Ahauser Jugendamt eingegangen. 31 Mal wurden Kinder in Obhut genommen. Das Problem: Es gibt nicht genügend Unterbringungsplätze.
Das führt zu kritischen Situationen für alle Beteiligten: Als eine Mitarbeiterin des Ahauser Jugendamtes keinen Unterbringungsplatz für ein gefährdetes Kind findet, nimmt sie es nach stundenlangen Telefonaten mit nach Hause. Diese Situation schildert Marina Bänke, Jugendamtsleiterin in Ahaus, im Gespräch mit unserer Redaktion. „Noch ist es ein Einzelfall“, sagt sie. Doch die Situation spitze sich zu.
Denn die Anzahl der Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung hat sich seit 2021 fast verdoppelt. Das Jugendamt Ahaus hatte im Jahr 2024 insgesamt 60 Mitteilungen. 2021 waren es noch 32. Marina Bänke betont aber, dass der Anstieg auch auf die erfolgreiche Aufklärungsarbeit zurückzuführen ist: Menschen rufen schneller das Jugendamt, wenn sie den Eindruck haben, dass etwas nicht stimmt.

Wie häufig kommt eine Inobhutnahme in Ahaus vor? 2024 wurden 31 Kinder in Obhut genommen. 2021 waren es noch sieben, teilt das Jugendamt mit. Wenn ein Kind in Obhut genommen werden muss, beginnt eine langatmige Suche.
„Für Kinder und Jugendliche eine Unterkunft zu finden, ist eine große Herausforderung“, sagt Marina Bänke. In Ahaus gibt es keine Kinderschutzstelle. „Eine Unterbringung im Umkreis ist oft nicht möglich“, erklärt Jenny Beeker vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Stadt.
Bundesweite Suche nach Plätzen
Die Stadt sucht mittlerweile bundesweit nach freien Plätzen und doch dauere das „mehrere Stunden, Tage, Wochen bis hin zu Monaten“. Obwohl bis zu drei oder vier Mitarbeiter gleichzeitig daran arbeiten würden. „Wir nehmen alles, was wir kriegen können“, so Marina Bänke.
Fragen nach individuellen Bedürfnissen, passenden pädagogischen oder therapeutischen Angeboten würden dabei längst auf der Strecke bleiben. Auch Kosten spielen längst keine Rolle mehr: „Mittlerweile fragen wir gar nicht mehr, wie viel so ein Platz kostet“, erklärt die Jugendamtsleiterin.
„Obwohl die Jugendämter nach mehr Plätzen schreien, schließen einige Wohngruppen“, so Marina Bänke. Schuld sei vermutlich der Fachkräftemangel.
Aber fehlende Plätze in dauerhaften Wohngruppen verschlimmern das Problem: „Denn die Kinder bleiben länger in den Inobhutnahmestellen“, so Bänke. Dabei seien die eigentlich nur eine Übergangslösung. Die Kinder sollen im Optimalfall zeitnah in eine stationäre Wohngruppe wechseln, sagt die Jugendamtsleiterin.
Anrufe von Wohngruppen
Ein Problem, das die angespannte Situation weiter belastet: „Die Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern und stationären Wohngruppen kippt“, berichtet Marina Bänke. Fast wöchentlich würden stationäre Wohngruppen das Jugendamt bitten, Kinder wieder abzuholen – manchmal innerhalb weniger Stunden. Mal, weil die Wohngruppe geschlossen wird. Mal, weil es Zwischenfälle gegeben haben soll.
So auch kurz vor Weihnachten – Marina Bänke berichtet: Das Jugendamt musste ein Geschwisterpaar wegen der plötzlichen Schließung einer Wohngruppe sofort abholen. Eine andere Einrichtung sei mit einem Kind überfordert gewesen. Auch dort musste das Jugendamt ein Kind abholen, erzählt sie. Für alle drei Kinder habe das Jugendamt dann noch eine vorläufige Unterbringung gefunden. Zum Glück.
Dieses Vorgehen der stationären Einrichtungen sei eine Katastrophe für die Kinder. „Sie bekommen das Gefühl vermittelt, ich bin nicht erwünscht“, so Marina Bänke.
Dieses strukturelle Problem wirkt sich auch auf die Mitarbeiter im Jugendamt aus.„Die Arbeitsbelastung ist enorm“, so die Jugendamtsleiterin. Jenny Beeker spricht von Phasen, in denen sie überlastet ist.
Vor Weihnachten habe sie kaum noch durchatmen können. Und das, obwohl eigentlich alle Stellen im ASD besetzt sind, aktuell sechs Vollzeitkräfte.
„Es ist auf Kante genäht“, beschreibt Marina Bänke. Schon kleine Ausfälle, eine Krankheit oder parallel noch eine Fortbildung würden das System schnell an seine Grenzen bringen. Komme es zu unerwarteten Ausfällen, laufe der Dienst nur noch im Krisenmodus – Kinderschutz stehe dann im Fokus.

Andere Beratungsangebote würden in dieser Zeit hinten überfallen. Aber: „Das ist mehrfach in der Woche so“, sagt Marina Bänke. Wie lange das noch gut gehe, sei eine andere Frage.
Das Jugendamt braucht mehr Personal. „Das ist abzusehen“, so Marina Bänke. Denn durch die kontinuierlich hohe Belastung würden andere Themen wie Digitalisierung oder sogar die umfassende Dokumentation auf der Strecke bleiben.
Pflegefamilien als Entlastung
Das Ahauser Jugendamt versucht, die Situation zu entschärfen und sucht nach Lösungen. Eine eigene Schutzstelle mit weiteren Jugendämtern aus dem Kreis konnte bisher aber noch nicht realisiert werden, berichtet Marina Bänke.
Eine andere Lösung sind Bereitschaftspflegefamilien, erzählt Marina Bänke. Nach denen sucht das Jugendamt immer. Für jüngere Kinder sei eine Unterbringung im familiären Umfeld besonders schön. Interessierte können sich an Heiner van Weyck, Tel. (02561) 72 362 wenden.
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 9. März 2025.