Die Zahlen sind eigentlich besorgniserregend. Dennoch werden sie regelrecht ratlos hingenommen. „Es gibt keine Ideen, wie man dagegen ansteuern kann“, sagt Jürgen Lürwer, Dechant im Dekanat Ahaus-Vreden und Pfarrer der Gemeinde St. Otger in Stadtlohn. In allen katholischen Gemeinden des Dekanats rund um Ahaus ist die Zahl der Menschen, die der Kirche im vergangenen Jahr den Rücken gekehrt haben, nochmals rasant angewachsen im Vergleich zu 2021.
„Richtig erklären kann ich das nicht“, sagt Jürgen Lürwer, aus dessen Stadtlohner Gemeinde 2022 insgesamt 360 Gemeindemitglieder aus der Kirche austraten. Im Vorjahr waren es noch 174 gewesen: Die Zahl hat sich also binnen eines Jahres mehr als verdoppelt. 14.201 Mitglieder zählt die Gemeinde nun noch.
Aber auch andere Gemeinden hat es hart getroffen: In Vreden (St. Georg) traten beispielsweise 351 Menschen aus der Kirche aus (2021: 201) und in Ahaus (St. Mariä Himmelfahrt) waren es 275 (2021: 171).
Prozentual gesehen stechen aber zwei andere Gemeinden heraus: In Heek (Heilig Kreuz) beispielsweise gab es einen Anstieg um 142 Prozent – von 40 Austritten 2021 zu 97 Austritten im Jahr 2022. Dicht gefolgt von Alstätte-Ottenstein (St. Mariä Himmelfahrt) mit 141 Prozent von 34 Austritten 2021 auf 82 im vergangenen Jahr.
Jürgen Lürwer findet: „Die Zahlen sind sehr hoch.“ Dennoch kann er über die Gründe nur spekulieren: „Wir bekommen nur selten Rückmeldung über die Beweggründe. Aber ich denke, dass die Gründe nicht hier bei uns vor Ort zu suchen sind. Es hat nichts mit unserem Gemeindeleben zu tun.“
Der Dechant bringt die Austritte vielmehr mit den Skandalen rund um die katholische Kirche in Verbindung: „Bei vielen mag sich über Jahre hinweg eine Distanz zur Kirche immer mehr aufgebaut haben. Es fehlt der Bezug. Man hat sich entfremdet. Oft braucht es dann einen letzten Auslöser, der das Fass zum Überlaufen bringt.“
Konkret benennen tut er dabei die Geschehnisse rund um Rainer Maria Woelki, aber auch Skandale im Bistum Münster beschäftigen die Menschen. „Alles, was schief läuft, führt zu den Kirchenaustritten. Und es findet ja kein Ende. Oft sind es auch Dinge, die in den oberen Kirchenkreisen geschehen, etwa in Rom, die den Menschen missfallen.“
Auch in der evangelischen Kirche steigt die Zahl der Kirchenaustritte weiter an. Der Evangelische Kirchenkreis Steinfurt-Coesfeld-Borken hat 2022 rund zwei Prozent seiner Mitglieder verloren - der stärkste Mitgliederrückgang seit Jahren. Ein Jahr zuvor hatte er noch 1,5 Prozent betragen. In Zahlen bedeutet das: 1404 Kirchenaustritte. 2021 waren es 901 Austritte.
Olaf Goos ist Pfarrer der Evangelischen Christus-Kirchengemeinde Ahaus mit den Bezirken Ahaus, Heek, Legden und Schöppingen. Hier gab es im vergangenen Jahr fast doppelt so viele Austritte wie noch 2021: „Im Jahr 2022 sind in unserem Gemeindegebiet rund 120 Menschen aus der Kirche ausgetreten. 2021 waren es 56“, fasst er zusammen.
Über die Gründe kann Olaf Goos dabei auch nur spekulieren. Er vermutet allerdings, dass gerade im letzten Jahr die finanzielle Situation eine große Rolle bei der Entscheidung gespielt haben mag. „Jeder guckt, wo man sparen kann“, sagt er.
Aber: „Dem Ganzen dürfte dann bereits eine fehlende Bindung vorangegangen sein. Das merke ich auch daran, dass ich die Menschen, die austreten, meistens gar nicht kenne. Sie haben sich also nicht aktiv am Gemeindeleben beteiligt.“

Seiner Meinung nach spielt aber auch das schlechte Image der katholischen Kirche eine große Rolle: „Manche schmeißen alles in einen Topf. Viele unterscheiden nicht zwischen katholisch und evangelisch. Kommt dann noch die mediale Aufmerksamkeit hinzu, wirkt das Ganze wie ein Austrittsbeschleuniger.“
Klaus Noack, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Oeding-Stadtlohn-Vreden, sieht das ähnlich: „Die evangelische Kirche wird quasi ‚mitverhaftet‘. Denn Kirche wird von vielen Menschen ökumenisch gesehen.“ In seiner Gemeinde traten letztes Jahr 81 Menschen aus der Kirche aus. 2021 waren es noch 53 gewesen, 2020 sogar nur 35. Insgesamt zählt die Gemeinde nun noch 4594 Mitglieder.
Und wie geht die evangelische Kirche mit der schwindenden Mitgliederzahl um? „Wir stellen uns strukturell darauf ein, dass es immer weniger Gemeindemitglieder werden“, sagt Klaus Noack. Was nichts anderes bedeutet, als mit weniger Geld auszukommen. Denn die Gelder werden an die Gemeinden pro Mitglied verteilt. Auswirkungen dürfte das dann in erster Linie auf die personelle Situation haben, wie auch Olaf Goos erklärt: „80 Prozent des Geldes wird für das Personal verwendet. Vielen ist daher die Tragweite ihres Austritts gar nicht bewusst.“
Weiterhin stehen Überlegungen im Raum, mehrere Pfarrstellen zusammenzulegen und somit Kooperationsräume zu schaffen, wie Klaus Noack ergänzt: „Vor allem in ländlichen Gegenden wird dann in Verbünden gedacht.“
Jürgen Lürwer schildert für die katholische Kirche ganz ähnliche Gedanken: „Das Bistum plant, die Aufgabengebiete der Seelsorger über einen größeren Raum zu erstrecken. Der Grund dafür ist aber nicht nur in der schwindenden Mitgliederzahl zu suchen, sondern hat auch etwas damit zu tun, dass die Zahl der hauptamtlichen Seelsorger ebenfalls schrumpft.“

Bestrebungen, dem Mitgliederschwund entgegenzuwirken, gibt es aber im großen Stile nicht - weder in der evangelischen noch in der katholischen Kirche. Der evangelische Pfarrer Klaus Noack dazu: „Wir sind keine Zauberer. Wir haben nicht alles in der Hand. Dementsprechend müssen wir die Gegebenheiten so annehmen, wie sind. Und versuchen, unseren Dienst so gut es möglich ist zu tun.“
Auch Dechant Jürgen Lürwer sagt: „Wir nehmen es hin. Jeder Austritt ist natürlich schade. Denn meiner Meinung nach ist eine Veränderung nur von innen möglich. Ein Austritt wird an dem, was schief läuft, erstmal nichts verändern.“
Dennoch sei man vor Ort bemüht, ein attraktives Gemeindeleben zu gestalten: „Präsenz zeigen! Schöne Gottesdienste feiern! Lokal vor Ort für die Menschen Ansprechpartner sein! Interessante Projekte und Aktionen anbieten! All das können wir tun, damit unsere Mitglieder Gemeinschaft erleben“, so Lürwer.
Als positiv empfinden jedoch alle drei Pfarrer, dass sich nach wie vor viele Eltern dazu entscheiden, ihre Kinder taufen zu lassen. In der Evangelischen Kirchengemeinde Oeding-Stadtlohn-Vreden waren es im vergangenen Jahr 37 Taufen, in der Evangelischen Christus-Kirchengemeinde Ahaus 45 und Jürgen Lürwer kann für seine katholische Gemeinde in Stadtlohn sogar 121 Taufen vermelden - alles im Schnitt ungefähr gleichbleibende Zahlen über die letzten Jahre.
„Eine Taufe ist ein sehr schönes Fest. Es ist toll, zu sehen, dass sich immer noch viele Menschen dafür entscheiden. Das gilt ebenso für die kirchlichen Hochzeiten. Auch hier ist die Zahl immer relativ konstant mit circa 25 Trauungen pro Jahr. Ich finde es erfreulich, dass sich viele junge Menschen nach wie vor Gottes Segen wünschen“, so Jürgen Lürwer.
Die Kirchenaustritte im Dekanat Ahaus-Vreden (außer Gronau):
- Ahaus (St. Mariä Himmelfahrt): 2022: 275 Kirchenaustritte; 2021: 171 Kirchenaustritte; 10.400 Gemeindemitglieder Ende 2022.
- Alstätte-Ottenstein (St. Mariä Himmelfahrt): 2022: 82; 2021: 34; 6.985 Gemeindemitglieder.
- Ahaus-Wüllen (St. Andreas und Martinus): 2022: 177; 2021: 104; 8.774 Gemeindemitglieder.
- Heek (Heilig Kreuz): 2022: 97; 2021: 40; 6.736 Gemeindemitglieder.
- Legden (St. Brigida und St. Margareta): 2022: 83; 2021: 37; 5.300 Gemeindemitglieder.
- Schöppingen (St. Brictius): 2022: 51; 2021: 35; 5.039 Gemeindemitglieder.
- Stadtlohn (St. Otger): 2022: 360; 2021: 174; 14.201 Gemeindemitglieder.
- Südlohn (St. Vitus und St. Jacobus): 2022: 146; 2021: 81; 6.701 Gemeindemitglieder.
- Vreden (St. Georg): 2022: 351; 2021: 201; 16.912 Gemeindemitglieder.
Die Kirchenaustritte der evangelischen Kirche:
- Evangelische Kirchengemeinde Oeding-Stadtlohn-Vreden: 2022: 81; 2021: 53; 4.594 Gemeindemitglieder.
- Evangelische Christus-Kirchengemeinde Ahaus: 2022: 120; 2021: 56; 5.421 Gemeindemitglieder.