Ein kurzer Moment reichte einem 29-jährigen Ahauser am Dienstagmorgen, um aus dem Ahauser Amtsgericht zu flüchten. Die Polizei geht aktuell davon aus, dass der Mann in einer Pause aus einem Toilettenfenster im ersten Stock gesprungen ist. Obwohl er von einem Justizbeamten begleitet wurde.
Die Fahndung von Polizei und Justizbeamten blieb erstmal ohne Erfolg und der Mann verschwunden. „Das ist mir in meinen 32 Jahren als Anwalt noch nicht passiert“, sagte Robert Mensing völlig verblüfft. Der 62-jährige Ahauser hatte den Angeklagten bis zu diesem Punkt verteidigt. Auch Richter und Schöffen hatten so eine Flucht bestenfalls in einem schlechten TV-Krimi erlebt.
Zweimal hatte der 29-jährige während der Verhandlung darum gebeten, auf die Toilette gehen zu dürfen. Beide Male hatte ihn ein Justizbeamter begleitet. Beim zweiten Gang kam er nicht mehr aus der Toilette heraus. Als er nachgesehen habe, habe da nur noch die Mütze des Angeklagten gelegen, schilderte der Justizbeamte das Geschehen gegenüber den hinzugerufenen Polizisten.
Er habe von außen vor der angelehnten Tür gewartet und ihr schlimmstenfalls für einen kurzen Augenblick den Rücken gekehrt. Um die Privatsphäre des Angeklagten zu wahren, habe er natürlich außen vor der Toilette gewartet.
Für Benedikt Vieth, Direktor des Amtsgerichts Ahaus, ist es am Dienstag noch viel zu früh für jedwede Bewertung des Geschehens. „Ich muss jetzt erstmal klären, was genau geschehen ist“, erklärte er am Mittag gegenüber unserer Redaktion.

Polizei und Justiz gingen aktuell allerdings davon aus, dass der Mann definitiv aus dem Amtsgericht entkommen sei. Polizei und Justizbeamte hätten das gesamte Gebäude samt Dachboden und Keller zweimal durchsucht.
Den Flüchtigen hätten sie nicht entdeckt. Auch Benedikt Vieth zeigte sich völlig überrascht: „Ich bin seit zwölf Jahren Direktor des Amtsgerichts. So etwas hat es noch nicht gegeben“, erklärte er.
Defekt: Andere Toilette gesperrt
Normalerweise gibt es im Obergeschoss des Amtsgerichtsgebäudes direkt neben dem großen Gerichtssaal eine Herrentoilette ohne Fenster. Die ist allerdings seit einigen Tagen defekt und gesperrt. Eine weitere Toilette gibt es im Erdgeschoss. Auch sie hätte keine Fenster gehabt.
Stattdessen wurde der Angeklagte jedoch auf eine Toilette am anderen Ende des Gerichtsgebäudes gebracht. Dort gibt es das Fenster nach draußen. Es befindet sich zwar im ersten Stock und über einem Kellerabgang, offenbar ließ sich der 29-Jährige davon nicht abschrecken.

Die gesamte Verhandlung war am Dienstagmorgen recht turbulent verlaufen: Erst mit 50 Minuten Verspätung hatte sie begonnen. Erst da hatte der Ahauser mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm den Gerichtssaal betreten und sich für seine Verspätung entschuldigt.
Da hatten Schöffen, Richter, Staatsanwalt und Verteidiger den Prozess eigentlich schon beendet. Per Haftbefehl sollte der Mann gesucht werden. Allerdings mit unklaren Erfolgsaussichten: Der Mann hätte schon vor Wochen eine Haft antreten müssen. Zu seinem Verteidiger hatte er bestenfalls sporadischen Kontakt gehalten.
200 kg Käse aus Keller gestohlen
Auch die Vorwürfe wirkten auf den ersten Blick skurril: Seiner Tante soll der Mann bei einem nächtlichen Besuch einen Tablet-Computer gestohlen haben. Auch soll er in den Keller einer Pizzeria eingebrochen sein und dort rund 200 Kilo Käse, 100 Packungen Wurst und Tortellini gestohlen haben.
Die Lebensmittel habe er direkt weiterverkauft, schilderte der Mann vor Gericht. Polizisten hatten den Mann kurz nach der Tat samt Käseberg auf einem Rollwagen sogar noch in der Ahauser Innenstadt kontrolliert. Da hatte er angegeben, dass für Verwandte zu einem Parkplatz bringen zu wollen. Auch in einem Geschäft in Ahaus hatte er kurze Zeit später noch einmal gestohlen.
Gutachten soll Therapie klären
„Ich bin einfach ein Junkie“, hatte er am Dienstagmorgen in der Verhandlung vor Gericht erklärt. Kokain, Amphetamin, Alkohol in großen Mengen. Ein eigenes Einkommen hat der Mann nicht. „Ich lebe vom Geld meines Vaters“, erklärte er. Mache er bei dem traurige Augen, bekomme er etwas Geld. „Hätte ich meine Eltern nicht, wäre ich sicherlich obdachlos“, fügte er hinzu. Die Taten räumte er ein. Lediglich den Diebstahl von seiner Tante habe er nicht begangen. Sie habe ihm das Tablet geliehen.
Immer wieder stand er fahrig auf, unterbrach Richter oder Staatsanwalt. Schließlich folgte er recht ruhig dem Geschehen im Gerichtssaal. Bis zu der Toilettenpause.

Einmal war er bereits für mehrere Jahre hinter Gittern. Eine weitere Haftstrafe hätte er antreten sollen, hatte aber auch diesen Termin verstreichen lassen. Am Morgen hatte er bei seinem verspäteten Erscheinen erklärt, dass er das Gepäck für den Haftantritt schon dabei habe.
Einmal war er auch für die aktuellen Vorwürfe nicht vor Gericht erschienen. Im Detail wurde allerdings vor Gericht am Dienstag über die Vorstrafen nicht gesprochen.
Die Verhandlung wurde zunächst ohne den Mann fortgesetzt, dann aber abgebrochen: Gegen ihn erging Haftbefehl wegen Flucht. Außerdem soll ein Gutachten klären, ob er wegen seiner Drogensucht und der möglicherweise drohenden Beschaffungskriminalität eine Therapie in einer geschlossenen Einrichtung machen muss. Wenn das Ergebnis des Gutachtens feststeht, soll der Prozess neu aufgenommen werden.