Feuerwerkskatastrophe in Enschede Josef Terbeck aus Ahaus erinnert sich 25 Jahre später

Feuerwerkskatastrophe in Enschede: Josef Terbeck erinnert sich
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Der 13. Mai 2000 ist ein ganz normaler Samstag für Josef Terbeck. Der Ahauser Stadtbrandmeister hat keinen Dienst. Er nutzt den Tag, um seinen Sohn, der in der F-Jugend spielt, zu einem Fußballmatch zu begleiten. Die Sonne scheint, es ist warm.

Terbeck steht kurz vor 15 Uhr am Rande des Spielfeldes im Heeker Dinkelstadion und feuert seinen Sohn an, so wie viele Väter an diesem Samstagnachmittag. Davon, dass sich gerade in rund 19 Kilometern Luftlinie Entfernung eine Katastrophe anbahnt, ahnt er nichts.

Josef Terbeck war als Feuerwehrmann nach der Explosion in Enschede vor 25 Jahren vor Ort. Er erinnert sich noch gut an die Katastrophe.
Josef Terbeck war als Feuerwehrmann nach der Explosion in Enschede vor 25 Jahren vor Ort. Er erinnert sich noch gut an die Katastrophe. © Anna-Lena Haget

Ortswechsel: Während Josef Terbeck in Heek das Fußballspiel verfolgt, geht in Enschede gegen 15 Uhr der erste Notruf eines Passanten bei der Feuerwehr ein. Ein Feuer in der Tollenstraat im Norden der Stadt. Die Brandmeldeanlage bei S.E. Fireworks hat in einem der Gebäude auf dem Grundstück der Feuerwerksfabrik ausgelöst. Die Enscheder Feuerwehr schickt ein Tanklöschfahrzeug und einen Drehleiterwagen los.

Aus anderen Standorten im Stadtgebiet werden zwei weitere Fahrzeuge angefordert. Als die Einsatzkräfte am Brandort ankommen, hat das Feuer bereits auf zwei Schiffscontainer übergegriffen, die draußen auf dem Hof stehen. Illegal, wie sich später herausstellen wird. Noch glauben die Feuerwehrleute, sie könnten das kleine Feuer recht schnell in den Griff bekommen. Eine tragische Fehleinschätzung.

Kapazitäten überschritten

Die Einsatzkräfte versuchen zu löschen, fordern Verstärkung an. Doch sie können nicht verhindern, dass das Feuer auf einem dritten Schiffscontainer übergreift, der schließlich, wie die beiden anderen, in Flammen aufgeht. Kurze Zeit später explodieren in einer Kettenreaktion alle drei. Die Schiffscontainer sind randvoll mit Feuerwerkskörpern und sogenannten Blitzbomben. Diese Bomben beinhalten einen pyrotechnischen Satz, der detoniert und damit die gleiche Wirkung wie Sprengstoff entwickelt. Die genehmigten Lagerkapazitäten für Feuerwerk haben die Betreiber von S.E. Fireworks deutlich überschritten.

Darüber hinaus hatte das Unternehmen bewusst Vorschriften umgangen. So hätten in der Fabrik lediglich Feuerwerkskörper der Gefahrengutklasse 1.3g lagern dürfen. Dennoch stuften Sachverständige später Feuerwerk in die Gefahrengutklasse 1.2g und 1.1g ein. Das entspricht massenexplosionsfähigem Material.

Hunderte Silvesterraketen schnellen vor dem Hintergrund der grauen Rauchwolke, die über dem Gelände mitten in einem Wohngebiet steht, heulend durch die Luft. Immer wieder sind größere und kleinere Explosionen zu hören. Zahlreiche Schaulustige drängen sich inzwischen auf den Straßen rund um die brennenden Fabrikhallen, angelockt durch das Feuerwerk.

Polizei und Feuerwehr versuchen vergebens, die Passanten zurückzudrängen. Immer mehr Feuerwehrleute und Rettungskräfte werden zum Brandort alarmiert. Die Einsatzleitung hat inzwischen erkannt, wie lebensgefährlich die Situation ist. Mitten im Wohngebiet Roombeek, in Sichtweite der Grolsch-Brauerei, sitzen sie auf einem Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann.

Eine Luftaufnahme zeigt die enorme Zerstörungskraft der Explosionen.
Eine Luftaufnahme zeigt die enorme Zerstörungskraft der Explosionen. © picture-alliance / dpa

Zeit vergeht, immer heftigere Explosionen erschüttern das Viertel. Auf den Straßen herrscht Chaos, Menschen fliehen in Panik. Es ist kurz vor 15.30 Uhr und der Zentralbunker, in dem 177 Tonnen Feuerwerkskörper lagern, verwandelt den sonnigen Samstagnachmittag endgültig in ein Inferno wie aus einem Horrorfilm.

Die erste verheerende Explosion hat ein Äquivalent von rund 800 Kilogramm Dynamit. Die Druckwelle lässt Fensterscheiben bersten und schleudert große Stahlbetonbrocken durch die Gegend. Vier der Feuerwehrleute, die als erste am Ort des Geschehens waren, sind auf der Stelle tot. Das Löschfahrzeug, in dem sie Deckung gesucht haben, wird wie ein Spielzeug auf die Seite geschleudert und brennt vollkommen aus.

Binnen 60 Sekunden erschüttert eine zweite, noch sehr viel stärkere Explosion das Stadtviertel. Eine kilometerhohe Flammenwand schießt in den einst blauen Frühlingshimmel, der von schwarzem Rauch verdunkelt wird. Die Druckwelle pulverisiert alles, was noch von S.E. Fireworks übrig ist und zig Gebäude drumherum. Menschen verbrennen in den Trümmern ihrer eingestürzten Häuser.

Experten werden diese zweite Explosion später mit einer Sprengkraft von 4000 bis 5000 Tonnen Dynamit angeben. 200 Wohnungen zerstört die Kraft der Explosion komplett. Die zweite Druckwelle reißt Fensterscheiben im Umkreis von 1,5 Kilometern aus ihren Rahmen und deckt die Dächer ganzer Straßenzüge ab. Trümmer fliegen bis zu 800 Meter weit, bohren sich in den Boden und krachen durch Hausdächer. 21 Menschen sterben in der Hölle von Enschede und fast 1000 werden durch herumfliegende Trümmerteile verletzt.

Ein zerstörter Straßenzug in Enschede nach der Katastrophe.
Ein zerstörter Straßenzug in Enschede nach der Katastrophe. © dpa

Das Fußballspiel in Heek ist inzwischen vorbei und Josef Terbeck fährt seinen Sohn zurück nach Ahaus. „Wir waren gegen 16 Uhr zu Hause. Ich hab von der Katastrophe nichts mitbekommen“, erinnert sich der heute 71-Jährige an den Tag, der sein Leben verändert hat. In der Ferne steht eine riesige, graue Rauchsäule am Horizont über der Stadt, die den erfahrenen Feuerwehrmann stutzig werden lässt.

Er greift zum Telefon. „Ich habe in der Leitstelle angerufen und die haben gesagt, da war heute nur ein kleiner Einsatz in der Bröke“, sagt er. Kurze Zeit später klingelt das Telefon bei ihm. „Ich hab einen Anruf gekriegt, ich sollte mich fertigmachen“, erklärt der Ahauser knapp.

Josef Terbeck, seinerzeit Stadtbrandmeister und stellvertretender Wehrführer des Kreises Borken, eilt zur Ahauser Feuerwache. Dort nimmt ihn ein Fahrzeug auf. Am Krankenhaus begegnen ihm erste Rettungsfahrzeuge. „Wir sind Richtung Graes gefahren, da stieg eine Notärztin aus einem anderen Wagen zu“, erinnert er sich.

Noch ist nicht ganz klar, wie groß das Ausmaß der Katastrophe wirklich ist. Aber dass dies kein Einsatz wie jeder andere werden wird, ahnt Terbeck bereits. In Glanerbrug an der Grenze werden die deutschen Feuerwehrleute von einer Polizeieskorte abgeholt und zu einem Sammelplatz geleitet.

30 Alstätter Feuerwehrkräfte und 70 aus Gronau und Epe, außerdem zahlreiche Notärzte aus den Kreisen Borken und Steinfurt sind im Einsatz, knapp eine Stunde ist seit der zweiten, verheerenden Explosion vergangen. Auch das deutsche technische Hilfswerk und das Deutsche Rote Kreuz unterstützen die niederländischen Rettungskräfte. Für Josef Terbeck und seine Kameraden beginnt die Arbeit in einem Schreckensszenario, das noch keiner von ihnen in dieser Heftigkeit erlebt hat.

„Diese Bilder kann man nicht löschen, wenn man das erlebt hat“, sagt der 71-Jährige heute und sein Blick geht in die Ferne, „Der Himmel war pechschwarz und es knallte die ganze Zeit wie in einem Kriegsgebiet. Das knallte und donnerte wie verrückt“. Rauch verdunkelt die Sonne, ganze Straßenzüge brennen vollkommen aus.

Ein erschöpfter Feuerwehrmann gönnt sich eine Pause, während seine Kollegen versuchen, das brennende Stadtviertel Roombeek zu löschen.
Ein erschöpfter Feuerwehrmann gönnt sich eine Pause, während seine Kollegen versuchen, das brennende Stadtviertel Roombeek zu löschen. © DPA

Dass die Gefahrenlage eine ganz besondere ist, wird auch den deutschen Helfern schnell klar, denn das Feuer hat sich bis zur Grolschbrauerei mit ihren riesigen Braukesseln durchgefressen, die lichterloh brennt. „Die Brauerei hatte einen ganz hohen Turm mit Metallverkleidung. Die knickte ein und 15 Meter fielen da nach unten“, ruft der Feuerwehrmann sich die schrecklichen Bilder in Erinnerung zurück.

Die Flammen drohen, auf die Kältemittelanlage überzugreifen. Wenn diese Schaden nimmt, entweichen mehrere Tonnen giftiges Ammoniak in die Luft. Ein Umstand, der die Lage noch um einiges bedrohlicher gestaltet. Doch den Feuerwehrleuten gelingt es, die Flammen von der Anlage fernzuhalten und eine weitere Katastrophe zu verhindern.

Die deutschen Wehrleute führen ebenfalls Löscharbeiten durch und die unbürokratische Zusammenarbeit mit den niederländischen Kollegen klappt gut, trotz einiger Probleme mit der Technik. Der Einsatzleitwagen des Kreises parkt gegenüber seines niederländischen Pendants. Kollegen, die beide Sprachen sprechen, werden für die Kommunikation untereinander abgestellt.

„Wir sprechen alle ein paar Brocken Holländisch, aber wir verstehen nun mal nicht alles“, so Josef Terbeck heute. Und: „Kommunikativ gab es auch Probleme mit dem deutschen Funksystem auf holländischem Gebiet“. Der Stadtbrandmeister ist damals froh, wenigstens im Kreisleitwagen telefonieren zu können. Er versucht, mitten im Chaos den Überblick zu behalten.

Bei dem Brand, der den Explosionen folgte, wurde ein Gebiet von 42 Hektar zerstört.
Bei dem Brand, der den Explosionen folgte, wurde ein Gebiet von 42 Hektar zerstört. © picture-alliance/ dpa

Der Ahauser betont, wie gut die Kameradschaft zwischen Feuerwehrleuten auf beiden Seiten der Grenze ist. „Wir hatten auch Absprachen, dass wir uns gegenseitig helfen, ohne dass wir über die Ministerien gehen. Der Brand wartet nicht an der Grenze“, sagt er. Die Enscheder Kollegen hatten schon früher bei Vennbränden und Feuerwehr-Großübungen mit den Deutschen Hand in Hand gearbeitet. Man kennt und schätzt sich, auch private Freundschaften sind so mit der Zeit gewachsen.

Josef Terbeck geht der Tod seiner vier niederländischen Kameraden heute noch nahe. „Das waren alles Leute, die mitten aus dem Leben gerissen wurden. Mit einem war ich Monate vorher noch auf einer Silberhochzeit und wir haben zusammen gefeiert“, erinnert er sich, „und dann liegt der da wie ein Bündel auf der Straße“. Ein grauenvoller Anblick, den er nicht mehr vergessen kann, so lange er lebt.

Einsatzende um Mitternacht

Genau so wenig wie die Bilder von der Einsatzstelle, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben. „Wir haben eine Straße gesehen, da waren alle Häuser weg. Nur noch die Fackeln der Gasleitungen brannten noch drei Stunden später“, beschreibt er die intensiven Eindrücke.

Bis um Mitternacht läuft der Einsatz für die rund 100 Helfer aus Alstätte, Gronau und Epe. Danach ist auch Josef Terbeck völlig erschöpft, körperlich wie emotional. „Solche Einsätze sind unvergesslich. Eigentlich braucht man das überhaupt nicht. Aber man kann es sich nicht aussuchen“, resümiert er heute.

Doch wie sieht es in ihm selber kurz nach dem Einsatz im Krisengebiet aus? Gab es psychologische Hilfe für die Helfer? „Hinterher geht man nicht einfach zur Tagesordnung über“, gibt Terbeck zu, „Wir haben da tagelang im großen Stil drüber geredet“. Auch er hat sich über die Jahre Gedanken zur Ursache der unvorstellbaren Katastrophe von Enschede gemacht, Schriftstücke und Zeitungsberichte dazu in einem Aktenordner gesammelt.

Inzwischen ist er sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um Brandstiftung gehandelt haben muss. „Mitten in einem dicht besiedelten Gebiet eine Feuerwerksfabrik zu betreiben, das war schon gewagt“, erklärt er. Er habe sich später Luftbilder von der Stelle angesehen: „Da sah man, dass da schon vorher Container standen, die da nicht hingehörten“.

Vier Kameraden beerdigt

Am 19. und 20. Mai 2000 werden die im Einsatz umgekommenen Feuerwehrleute zu Grabe getragen. Auch die deutschen Kollegen sind dabei, um sich zu verabschieden. „Wir haben dann an den Beerdigungen teilgenommen und ein Jahr später bekamen wir dann ein Buch überreicht“, erklärt der Feuerwehrmann. In seinem Ordner hat der Ahauser mehrere Dankschreiben archiviert, die er erhalten hat. „Das ging bis zur EU“, sagt er und blättert eine Seite mit einem Brief der ehemaligen EU-Parlamentarierin Hedwig Keppelhoff-Wiechert auf.

„Das war halt unser Job. Völlig unabhängig davon, ob man ein Dankeschön bekommt oder nicht“, ergänzt er bescheiden. Am Ort der Katastrophe sei er übrigens nie wieder gewesen, erzählt Josef Terbeck noch. „Vorher war ich öfter noch auf dem Markt in Enschede, aber danach nicht mehr. Da zieht mich nichts mehr hin. Ich wollte immer noch mal da hin, aber...“, seine Worte verlieren sich und er zuckt die Schultern.

Zum Thema

Die Katastrophe in Zahlen

  • Insgesamt starben 23 Personen bei der Explosionskatastrophe von Enschede.
  • Ein Gebiet von 42 Hektar im Stadtteil Roombeek wurde völlig verwüstet.
  • 200 Wohnungen wurden komplett zerstört und 1500 Wohnungen außerhalb des Viertels Roombeek sowie 500 Betriebe schwer beschädigt.
  • 1250 Menschen waren nach der Katastrophe obdachlos.
  • Der Schaden betrug rund eine Milliarde Gulden, umgerechnet etwa 454 Millionen Euro.
  • Aus dem Kreis Borken waren drei Löschzüge, aus NRW sechs Rettungshubschrauber und 40 Notärzte im Einsatz.