
© Markus Gehring
Big Ben: „Deutschlands älteste aktive Disco steht in Ottenstein!“
Disco „Big Ben“
Die Disco „Big Ben“ in Ottenstein ist etwas ganz Besonderes. Das liegt nicht nur am Jahr der Eröffnung, sondern auch daran, dass das Mobiliar von damals größtenteils erhalten ist.
Berlin? Hamburg? München? Nein. Die Antwort ist Ottenstein. In Ottenstein steht nach eigenem Anspruch die älteste noch aktive Discothek Deutschlands. Das erste Tanzzimmer öffnete vor 54 Jahren, 1967. Seit 1972 ist die Einrichtung des Tanzlokals „Big Ben“ größtenteils erhalten. „Nur das 1960 auf Helgoland eröffnete „Krebs“ war älter. Da es aber 2018 geschlossen wurde, gebührt uns der Titel“, sagt Dietmar Herbers. Der 56-Jährige, dessen Eltern Gerhard und Maria Herbers den Betrieb auf die Beine stellten, kramt mit uns und dem aktuellen Chef Markus ven der Buss (38) in Erinnerungen.
Wir schreiben das Jahr 1965. Gerhard und Maria Herbers fassen den Entschluss, in Ottenstein eine Gaststätte zu bauen. Der Name: „Zum Bülten.“ Heute liegt die Disco mitten im Wohngebiet, an der Pastorsmoate. „Zu Beginn stand hier ringsherum nichts“, sagt Dietmar Herbers. „Aber mit dem Wissen, dass drumherum eine Neubausiedlung entsteht, hat sich mein Vater davon natürlich Gäste erhofft.“

Eine Aufnahme aus dem "Big Ben", die um das Jahr 1972 entstand. © Markus Gehring
Eine Gaststätte plus ein Raum, das ist am 17. Dezember 1965 der Beginn. Die Gäste kommen. 1967 wird ein zweiter Raum angebaut. Zwei Jahre später kommt die nächste Bauphase, 1972 letztendlich das Tanzlokal/Discothek „Big Ben“. Dietmar Herbers: „Ich bin 1962 geboren. Ich habe das alles bewusst erleben dürfen.“ In Erinnerung hat er noch den Rohbau, den er als Dreijähriger wachsen sah. Aufgewachsen und groß geworden ist Dietmar Herbers inmitten der Gastronomie. „Da blieb es natürlich nicht aus, dass man als Kind mit anpacken musste.“
Rolling Stones und Roy Black
Als Elfjähriger versorgt er ab und an sonntagmorgens die Gäste beim Frühschoppen, zapft Bier und kassiert ab. „Ich war aber dann doch meistens froh, wenn mich meine Eltern nach gut einer halben Stunde ablösten.“
Dass die Ottensteiner zum Frühschoppen gehen, ist das eine. Tanzen ist das andere. 1967 wird vergrößert, es entsteht die erste Tanzfläche. Die Zutaten: Lautsprecher und schummriges Licht. Durch einen zusätzlichen Wandapparat kann vom Tanzzimmer aus die Musikbox in der Gaststätte bedient werden. „Die jungen Leute waren dann für sich und konnten selbst die Musik bestimmen.“ Der Zulauf an Gästen nimmt zu. Immer mehr Leute ziehen Mitte/Ende der 60er-Jahre in den Laden. Ihr Musikgeschmack reicht von „Satisfaction“ von den Rolling Stones bis zu „Ganz in Weiß“ von Roy Black.
Anfang der 70er-Jahre spielen im Tanzlokal sogar Livebands. Dietmar Herbers: „Da gingen meine Eltern jeden Samstagabend das Risiko ein, eine teure Band zu bezahlen und nicht zu wissen, ob Gäste kommen.“ Es ist die Zeit, in der sonntags mehr Gäste im Tanzlokal aufs „Plattenhören“ stehen, als samstagsabends zur Livemusik kommen.
99 Pfennig Eintritt
„Da kamen meine Eltern auf die Idee, zusätzlich am Sonntag eine Disco zu veranstalten.“ Die Liveband muss schon nach Konzertende am frühen Sonntagmorgen wieder abbauen, damit die Discoanlage aufgestellt werden kann. 99 Pfennig Eintritt und ab 17 Uhr geht‘s los. Es funktioniert – sogar deutlich besser als die Tanzabende. Zudem ist es finanziell attraktiver, „nur“ einen Discjockey zu bezahlen, statt eine komplette Tanzband. Die Disco läuft, die Gaststätte nicht minder. Dazu trägt bei, dass im Bülten die ersten Pommes Frites in Ottenstein über die Theke verkauft werden. Dietmar Herbers: „Die Gäste standen Schlange, um Pommes Majo in der Tüte mitzunehmen.“

Die Getränke sind frisch, die Kühlung einige Jahrzehnte alt. © Markus Gehring
Die Discogänger im „Big Ben“ kommen in den 70er-Jahren hauptsächlich aus dem Altkreis Ahaus. „Viele aus Richtung Vreden, aus den Bauerschaften Ellewick und Lünten. Aus Wüllen, später auch aus Nienborg und Heek. Alstätte und Graes nicht zu vergessen“, zählt Dietmar Herbers auf. Nur aus Stadtlohn und Ahaus zieht die Disco nicht so viele Gäste.
Ende der 70er-Jahre schwappt die Disco-Welle endgültig über Ottenstein. Nicht zuletzt dank des Films „Saturday Night Fever“ sowie der Musik der Bee Gees. Und wer will nicht so tanzen können wie „Tony Manero“-Darsteller John Travolta? Neben dem Samstag und dem Sonntag kommt im „Big Ben“ zu der Zeit auch noch der Freitag dazu. Zuvor war statt freitags eine Zeit lang mittwochs Disco-Time.
Konkurrenz in Ottenstein
Die Discowelle weckt auch andere Unternehmer. „In Ottenstein gab es etwa von 1976 bis 1983 zwei Discos“, erzählt Dietmar Herbers. Mit Dumpingpreisen bei den Getränken ködert der Mitbewerber die Bülten-Kundschaft. Doch der Konkurrenz geht die Puste aus. So wie vielen anderen Discotheken im Umland. „Kalifati, Barbados, Broadway, ich kann noch mehr aufzählen“, sagt Dietmar Herbers. Jedes Mal sei dort das Mobiliar des Vorgängers rausgeschmissen worden und musste Platz machen für einen neuen Trend. Andere Getränke, andere Preise, andere Musik. Jedes Mal muss „Big Ben“ damit leben, dass wieder neue Konkurrenz da ist. „Die machten alle wieder zu. Wir leben noch.“
Der Ottensteiner Disco bläst über Jahre und Jahrzehnte der Wind ins Gesicht. Mal ist es die Hoch-Zeit der mobilen Discotheken, mal sind es die zuhauf stattfindenden Landjugendfeste. Wenn Familie Herbers die darauf hinweisenden Schilder sieht, wird vorab schon Thekenpersonal abbestellt. „Wir haben mit vielen Hürden leben müssen“, sagt Dietmar Herbers. Es gab auch eine Zeit, in der andere Discotheken doch ein paar Mal zu oft abbrannten. Warm saniert. Für „Big Ben“ schlägt sich das in enormen Beiträgen zur Feuerversicherung nieder. „Ich kann mich an Zeiten erinnern, da haben wir im Jahr nur für die Feuerversicherung 20.000 DM bezahlt.“

Dietmar Herbers und Markus ven der Buss (v.l.) am Mischpult. Die Musik wird heute digital abgespielt, die Platten und CDs im Regal kommen nur noch selten zum Einsatz. © Markus Gehring
Im „Big Ben“ ist die Einrichtung von 1972 fast noch vollständig erhalten. „Wenn man reingeht, dann sieht man‘s“, sagt Markus ven der Buss schmunzelnd. „Wichtig war, dass man das über die ganzen Jahre in Ordnung hält“, erklärt Dietmar Herbers. Doch warum hat sich Herbers nie vom Mobiliar getrennt? „Auch wenn es um uns herum immer moderner wurde. Wir sind unserer Linie treu geblieben und damit gut gefahren.“
Natürlich fuhr und fährt „Big Ben“ auch durch Talsohlen. Zum Beispiel zur „Karpaten-Zeit“ oder zur Schützenfest-Saison. Markus ven der Buss: „Wenn du fünf Leute vor der Theke sitzen hast und fünf dahinter, dann machst du dir schon Sorgen. Heute wissen wir, dass wir zu dieser Zeit beruhigt in Urlaub fahren können. Wir kommen gut über den Sommer und die Leute kommen im Herbst wieder.“
Lampen zusammengekauft
Wenn sie dann wiederkommen, dann sieht es im „Big Ben“ fast noch immer so aus wie anno 1972. Markus ven der Buss: „Die Lampen rund um die Tanzfläche wurden 30 Jahre nachproduziert. Ich habe vor ein, zwei Jahren Lampen-Restbestände aus ganz Deutschland zusammengekauft, um einfach das Ambiente zu erhalten.“ Dass eine Lampe schnell mal 200 oder 300 Euro kostet, das nimmt der 38-Jährige in Kauf. „Ich bin bereit, das zu investieren, damit wir diesen alten Look pflegen können.“ Allerdings stößt er bei der Wiederbeschaffung schon an Grenzen.
„Big Ben“ selbst stößt Anfang der 90er-Jahre an Grenzen. Der regelmäßige Disco-Freitag fällt weg, das Wochenende wird nur noch im November und Dezember ab 22 Uhr eingeläutet. Gerne erinnert sich Dietmar Herbers an Zeiten, als Cliquen drei Tage fleißig feierten, freitags bis sonntags. „Aber das funktionierte irgendwann nicht mehr. Es wurde wichtiger, montags fit auf der Arbeit zu sein, statt sonntagabends noch in die Disco zu gehen.“ Die Ottensteiner Institution überlebt auch das.

Der Eingang zum "Big Ben" in Ottenstein. Die Disco ist jeden Samstag ab 22 Uhr geöffnet, von November bis Dezember zusätzlich auch freitags. © Christian Bödding
Maßgeblich dafür verantwortlich macht Dietmar Herbers die persönliche Note im „Big Ben“. Seine Erklärung: „Gingen sie früher in eine Großraumdisco, sind sie garantiert nicht vom Chef begrüßt und verabschiedet worden. Sie wussten nicht mal, wer der Chef war.“ Im „Big Ben“ seien Chef und Gast auf der gleichen Ebene. „Wir bekommen hier sofort mit, was funktioniert und was schlecht läuft“, sagt Dietmar Herbers und bezieht seinen Nachfolger in diese Feststellung mit ein. „Wir können das direkt geradebiegen.“

Im "Big Ben" saßen schon Generationen von Feierwilligen an den Tischen oder vergnügten sich auf der Tanzfläche. © Markus Gehring
Kundennähe sei das Zauberwort. „Da darf man sich als Chef nicht zu schade sein und muss mittendrin stehen und dabei sein.“ Jeder Abend sei anders. Markus ven der Buss: „Ich kann an zwei Abenden die gleiche Musik spielen und das Publikum reagiert jeweils völlig unterschiedlich.“ Deshalb wird im „Big Ben“ seit fünf Jahrzehnten nicht nur eine Musikrichtung gespielt, sondern alles. Dietmar Herbers: „Hier lief auch Katja Ebstein und wer darauf feiern wollte, der hat darauf gefeiert.“ Dann springt sogar beim sonst eher sturen Westfalen der Funke über, das bekommt das Thekenpersonal über den Zapfhahn zu spüren.
„Groff und trinkfest“
Wenn Dietmar Herbers den Münsterländer beschreibt, dann benutzt er das plattdeutsche Wort „groff“, das man mit „grob“ umschreiben kann. „Groff aber trinkfest“, sagt er. „Der Münsterländer kann gut feiern und verträgt so einiges.“ Aber wenn er zu viel trinkt, dann sagt Markus ven der Buss zum Gast auch mal Stopp. Dann nimmt er ihn an die Hand, eskortiert ihn zum Taxi, setzt ihn hinein und sagt dem Fahrer, wo der Fahrgast wohnt. „Das sind Kleinigkeiten, für die man von den Gästen viel zurückbekommt“, sagt ven der Buss. Ein Dankeschön zum Beispiel. „Als Chef musst du in solchen Momenten schon eine Menge Sozialkompetenz an den Tag legen und manchmal auch ein dickes Fell haben.“
Das braucht es auch, um dem Zeitgeist zu widerstehen. „Als ich in einer Disco in Vreden die ersten Laser gesehen habe, wie die durch die Bude zischten, da war für mich klar, dass wir das nicht brauchen“, streift Dietmar Herbers ein anderes Thema. „Wir haben immer versucht, das Lichtspektakel auf der Tanzfläche zu halten und die Gäste rundherum nicht zu stören.“

Das Mobiliar entspricht größtenteils dem Erscheinungsbild aus der Anfangszeit. © Markus Gehring
Doch allen Neuerungen hat sich „Big Ben“ nicht verschlossen. Die Musik wird von aktuell vier DJs heute digital abgespielt. Platten und CDs stehen im Regal, kommen jedoch nur noch äußerst selten zum Einsatz. Auf ihren Laptops haben die Discjockeys Dance, Rock, Pop und ein paar Klassiker parat. Einer der vier DJs ist Holländer. Dietmar Herbers: „Der legt auch mal Hard-Style auf. Aber wir sagen ihm dann: nicht zu viel.“
Nach dem Tod des Vaters – Gerhard Herbers starb 1992 im Alter von 58 Jahren – übernimmt der gelernte Kaufmann Dietmar Herbers die Bülten-Geschäfte. Ihm zur Seite: Ehefrau Gisela. „Ohne sie hätte ich das hier gar nicht schultern können.“ Bis 2008 führt der 58-Jährige die Geschäfte, dann macht er einen Schnitt – auf dem Papier wechselt der Betreiber. Markus ven der Buss übernimmt das Ruder. Der gebürtige Ottensteiner kennt den „Bülten“ und die Gäste kennen ihn. 1999 fing er dort an zu kellnern. Ven der Buss, der in den Niederlanden BWL studierte, wird Geschäftsführer, Dietmar Herbers sein Angestellter. An die große Glocke gehängt wird das nicht. „Ich wollte einen gleitenden Übergang“, erklärt Herbers dieses Vorgehen. „Mancher Wechsel wird ja schnell schlecht geredet und der Laden gleich mit. Dieses Risiko sind wir gar nicht erst eingegangen.“
Bis zu 20 Mitarbeiter an „Großkampftagen“
2012 folgt der letzte große Schritt. Markus ven der Buss: „Da sagte er an Karneval zu mir: Ich geh raus, du schaffst das alleine. Er warf mich ins kalte Wasser.“ Ven der Buss schwimmt sich frei und steht seitdem in der Disco Bülten an vorderster Stelle. Dietmar Herbers steht ihm bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite.
Trotz diverser technischer Neuerungen, die Arbeit ist in den fünf Jahrzehnten nicht weniger geworden. An „Großkampftagen“ wie Stephanus arbeiten bis zu 20 Kräfte in der Disco Bülten. An einem normalen Samstag sind es zwischen 13 und 15 Mitarbeiter. Sie alle tragen das „Big Ben“, nicht zu vergessen die Nachbarschaft, auf die Markus ven der Buss und Dietmar Herbers nichts kommen lassen. Von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens ist die Disco geöffnet, da braucht es bei den Anliegern mitunter ein ruhiges Gemüt, wenn es draußen etwas lauter zugeht.

Gerhard und Maria Herbers eröffneten 1965 die Gaststätte "Zum Bülten" in Ottenstein. © Markus Gehring
Im Schnitt ist das Publikum zwischen 25 und 30 Jahre alt. Im Winter etwas älter, wegen der in der Disco abgehaltenen Weihnachtsfeiern. Noch älter sind die Gäste, die jeweils vier Euro Eintritt zahlen, um zum Beispiel den 50. Geburtstag eines Stammtisch-Mitglieds zu feiern und die schon vor über 30 Jahren im „Big Ben“ saßen.
Ob sie wegen der Einrichtung kommen? Wegen der Musik? Wegen der persönlichen Note? Um alte Erinnerungen aufzufrischen? Wer weiß das schon so genau. Nur eines ist seit über 50 Jahren sicher: Liebe vergeht – Bülten besteht. Deutschlands älteste aktive Discothek. Sie steht nicht in Berlin, Hamburg oder München, sie steht in Ottenstein. Ein kleines bisschen stolz sind Dietmar Herbers und Markus ven der Buss schon darauf. Sie dürfen es auch sein.