Ahauserin aus DDR geflüchtet, schockiert über Wahlergebnisse „Wie konnte das passieren?“

Ahauserin Claudia Kahlert ist vor 35 Jahren aus der DDR geflüchtet
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Enttäuschung, Schreck und Traurigkeit. „Wie konnte das passieren?“ Claudia Kahlert ist fassungslos. Es sind die Ergebnisse der Landtagswahlen aus Brandenburg, die der 56-jährigen Ahauserin Angst machen.

Claudia Kahlert hat die Stadt Forst direkt an der polnischen Grenze lange ihre Heimat genannt – bevor sie aus der damaligen DDR geflüchtet ist. Kurz vor dem Mauerfall 1989. Jetzt kommt die AfD in der 17.700-Einwohner-Stadt auf über 40 Prozent der Stimmen.

Tag der Deutschen Einheit

Am 3. Oktober wird die deutsche Einheit gefeiert. Doch für Claudia Kahlert gibt es 35 Jahre nach dem Mauerfall eine schmerzvolle Erkenntnis: „Deutschland war früher nicht eins und ist es auch heute nicht.“

Aber noch einmal ganz an den Anfang. Ins Jahr 1989. Die Mauer steht noch, aber in Ostdeutschland gärt längst Umbruchstimmung. „Die Leute waren mit dem System nicht mehr einverstanden“, erinnert sich die heute 56-Jährige. Bei Montagsdemonstrationen trauen sie sich auf die Straßen, machen ihrem Unmut Luft.

„Man hat davon geträumt, andere Länder und Kulturen zu sehen“, sagt Claudia Kahlert. Doch ohne Ausreiseantrag ist der direkte Weg in den Westen versperrt: durch Grenze, Mauer und Todesstreifen.

Eine Fluchtgeschichte

Claudia Kahlert ist 21, als sie und ihr Mann beschließen, aus der DDR zu fliehen. Ein Ausreiseantrag kommt nicht infrage: Claudia Kahlerts Mann wird kurz vorher zur Nationalen Volksarmee einberufen. Der einzige Weg aus dem Osten: Flucht. Für sie „einfache Republikflucht“; für ihn als Soldat Fahnenflucht. Kein Kavaliersdelikt: Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Die Stadt Forst liegt direkt an der Neiße, dem deutsch-polnischen Grenzfluss. Nur mit Wechselsachen in einer Tasche geht das Paar an einem dunklen Novemberabend 1989 ins Wasser. Das Wasser reicht ihnen schnell bis zur Brust. Sie wollen auf die andere Seite, nach Polen gelangen. Doch dort stehen Grenzsoldaten.

Claudia Kahlert weiß ungefähr wo: Die Erzieherin war vorher tagelang mit ihren Krippenkindern dort spazieren gegangen. Viele Grenzer rauchen damals. „Ständig“, sagt sie aus der Erinnerung. Also steht da, wo am Flussufer Tabakqualm aufsteigt, der Grenzsoldat.

Am Flussufer in Ostdeutschland lässt sie ihre Freundin Kerstin zurück. Das Paar ruft über den Fluss, dass alles in Ordnung ist. Unwissend, ob sie sich jemals wiedersehen.

Der Mauerfall

Sie schlüpfen in trockene Kleidung und laufen einfach los. Richtung Warschau. Forst und Warschau liegen etwa 500 Kilometer auseinander. „Mir kam es vor, als wären wir durch einen ewig langen Wald gelaufen“, erinnert sich Claudia Kahlert.

Zu Fuß, per Anhalter und Zug und schließlich mit einem Taxi kommen Claudia Kahlert und ihr Mann vor der westdeutschen Botschaft in Warschau an: „Wir sind aus dem Auto ausgestiegen und nur noch in die Botschaft gerannt.“

Die Angst, vorher verhaftet zu werden, ist riesig. Dann plötzlich das Gefühl der Sicherheit: In der Botschaft ist man sehr hilfsbereit. Das Paar kommt mit anderen DDR-Flüchtlingen in einer ehemaligen Ferienanlage unter.

„Wir haben dort zusammengesessen und Freundschaften geschlossen.“ Claudia Kahlert lächelt. Die Ereignisse verschwimmen in ihrer Erinnerung. So viel sei passiert. Bis am 9. November plötzlich die Mauer fällt. „Wir haben gebannt auf den Fernseher geschaut. Und gesehen, wie die Grenzen geöffnet wurden.“

Um Claudia Kahlert herum brechen Menschen in Tränen aus. Sie können nicht glauben, was passiert. Doch es ist Realität: Für die Geflüchteten aus der Botschaft geht es mit dem Flugzeug nach Düsseldorf und von da mit dem Bus nach Schöppingen in ein Aufnahmelager.

Aufnahmelager in Schöppingen

Dort kommen sie am 11. November an. Hunderte Menschen, lange Schlangen, viel Gebrüll. Und mittendrin Claudia Kahlerts Freundin Kerstin, die sie nachts an der Neiße zurückgelassen hatte. „Zwischen diesen Tausend Menschen haben wir uns wiedergefunden.“ Ein Hoffnungsschimmer für diesen Neuanfang.

Claudia Kahlert mit Freunden auf Sofa
Claudia Kahlert (r.) in ihrer ersten Wohnung in Ahaus, gemeinsam mit ihrer Freundin Kerstin (l.) und einem befreundeten Paar. Auch heute sind Claudia Kahlert und Kerstin noch befreundet. © Privat

Claudia Kahlerts Mann bekommt noch am Aufnahmelager eine Stelle als Maurer in Ahaus. Wenig später bekommen sie eine Wohnung. „Es war alles so bunt.“ Claudia Kahlert lacht.

Ahaus als Rettungsanker

Auch wenn Heimweh ein ständiger Begleiter bleibt, nennt Claudia Kahlert heute Ahaus ihr Zuhause. Ein Grund: die Gastfreundschaft. „Wir hatten nur das, was wir anhatten. Und 100 Mark Begrüßungsgeld“, so die 56-Jährige. „Die Nachbarn brachten uns Teller und Tassen. Alle waren sehr nett und hilfsbereit.“ Das Paar bekommt vier Kinder.

Die Nacht in der Neiße ist fast 35 Jahre her. Claudia Kahlert will nie wieder zurück.

Jahre nach der Flucht trifft sie ihren besten Freund aus der DDR wieder. „Da habe ich gemerkt, dass wir nicht mehr auf einer Wellenlänge sind. Besonders, was das Politische angeht“, sagt sie.

Der Westen habe ihr andere Möglichkeiten gegeben: „Ich habe in einer Kinderkrippe in Forst gearbeitet. Kurz nach der Wende wurden viele Krippen geschlossen.“ Wahrscheinlich hätte Claudia Kahlert ihren Job verloren. „Ich habe nicht erlebt, was die Wende dort mit den Menschen gemacht hat. Diese Erfahrungen kann ich nicht mit ihnen teilen.“

Jeder Besuch bei ihrem Vater weckt auch Erinnerungen an früher. Und Verständnis für die Menschen dort. „Für mich ist es unbegreiflich, wie nach so vielen Jahren der Wiedervereinigung die Gehälter im Osten noch nicht angepasst wurden“, sagt sie. Was sie besonders treffe, sei der Zustand von dem Ort, den sie einst ihre Heimat nannte. „Es macht mich traurig, wenn ich zu meinem Vater fahre und sehe, dass dort alles verfällt.“ Es fehle auch an jeglicher Infrastruktur.

Trotzdem: Die Wahlergebnisse machen sie fassungslos.

Einblick in die Übersiedler-Wohnanlage in Schöppingen am 11. November 1989
Einblick in die Übersiedler-Wohnanlage in Schöppingen am 11. November 1989. Die Ahauser Zeitung berichtete über die Reaktionen der DDR-Bürger. © Heisterborg
Berichterstattung aus der Ahauser Zeitung am 11. November 1989.
Berichterstattung aus der Ahauser Zeitung am 11. November 1989. © Jule Lamers