67-Jähriger lernt lesen und schreiben Smartphone bringt den entscheidenden Schub für VHS-Kurs

67-Jähriger lernt lesen und schreiben: Smartphone bringt entscheidenden Schub
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Bernhard H. (Name von der Redaktion geändert) ist 67, dreifacher Vater, Großvater, Eigenheimbesitzer, Rentner. Auf den ersten Blick fällt er nicht auf. Doch er hat ein wohl gehütetes Geheimnis: Er kann weder lesen noch schreiben.

Der 67-Jährige stammt aus einem kleinen Ort in der Nähe von Ahaus. Würde er seinen richtigen Namen nennen, würden Nachbarn und Bekannte davon erfahren, dass er nicht richtig lesen und schreiben kann. Das will er bei aller Offenheit dann doch verhindern.

„Ich habe das nicht mal meinen Kindern gesagt“, gibt der 67-Jährige zu. Klar, die Freunde im Kegelclub wüssten nach so langer Zeit wohl Bescheid. Auch seine Frau habe er noch vor der Trauung eingeweiht. Sonst sucht er sich Ausreden und umgeht das Thema so weit er kann.

Inzwischen könne er auch offener über seine Schwäche reden. „Wenn mir früher jemand zu nah auf den Pelz kam, bin ich weg gegangen“, sagt er. Darüber sei auch schonmal böser Streit ausgebrochen. „Ich habe mich geschämt“, sagt der 67-Jährige. In alle Öffentlichkeit will er mit seinem Problem allerdings dann doch nicht gehen. Aber er möchte andere Betroffene dazu bringen, sich zu melden. Und auch als Erwachsene noch Lesen und Schreiben zu lernen.

Deutschlandweit gibt es nach aktuellen Schätzungen rund 6,2 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können.

„Die zu erreichen, ist aber unglaublich schwierig“, weiß Christiane Wielers-Umme. Beim aktuellen Forum Volkshochschule leitet sie den Bereich der Aufsuchenden Grundbildung, ist damit auch für Alphabetisierungskurse zuständig.

„Wir können nur Nachbarn, Freunde oder Angehörige darauf aufmerksam machen, dass wir die Kurse anbieten“, sagt sie. Den Betroffenen müsse man Lesen und Schreiben schmackhaft machen.

Heidemarie Leukel (l.) und Christiane Wielers-Umme wollen die Werbetrommel für die Alphabetisierungskurse an der VHS Ahaus rühren. Zum Welttag des Buches am Sonntag (23. April) hoffen sie darauf, dass sich möglichst viele Betroffene melden. Oder von Bekannten und Verwandten auf das Angebot aufmerksam gemacht werden.
Heidemarie Leukel (l.) und Christiane Wielers-Umme wollen die Werbetrommel für die Alphabetisierungskurse an der VHS Ahaus rühren. Zum Welttag des Buches am Sonntag (23. April) hoffen sie darauf, dass sich möglichst viele Betroffene melden. Oder von Bekannten und Verwandten auf das Angebot aufmerksam gemacht werden. © Stephan Rape

Bei Bernhard H. sei schließlich das Smartphone der entscheidende Punkt gewesen. „Mit der Bedienung komme ich klar“, sagt er. Aber die Nachrichten von Kegelclub, Hobbytruppe, Nachbarschaft oder Familie zu lesen, sei das Problem: „Da komme ich nicht mehr mit“, erklärt er.

Die Idee, etwas zu ändern, kam ihm mit 64. Er fing einen Kurs bei der VHS an. „Das hatte ich mit 40 schonmal gemacht“, sagt er. Doch der Kurs verlief damals im Sand. Bernhard H. ließ es dabei bewenden. Auch jetzt hätte er fast den Antrieb verloren: Während der Pandemie wurde der Kurs ausgesetzt. Gerade startet er erst wieder neu. „Hätte die VHS mich nicht angerufen, ich wäre wohl nicht wiedergekommen“, macht er deutlich.

„Man findet Wege“

Aber wie hat sich der 67-Jährige überhaupt durchs Leben geschlagen ohne Lesen und Schreiben zu können? „Man findet Wege“, erklärt er. Er sei früher ganz normal zu Schule gegangen. Ja, ein, zweimal sei er sitzen geblieben. Als er die Schule dann irgendwie hinter sich gebracht hatte, fing er an zu arbeiten.

Erstmal auf dem Bau. „Ein Kumpel von mir ging in die Maurerlehre“, sagt er. Die habe er praktisch mitgemacht, nur eben ohne Prüfung. Von da an habe er sich hochgearbeitet. Als Traktor- und Baggerfahrer habe er gearbeitet, bei einem Abbruchunternehmen, als LKW-Fahrer. Wenn er mal etwas schreiben oder lesen sollte, fand er Ausreden. „Kein Stift zur Hand, keine Lesebrille dabei, gerade keine Hand frei. Irgendwas fällt einem immer ein“, sagt er und lächelt.

Irgendwie habe er sich eben so durchgewurschtelt. Beim Führerschein beispielsweise: „Ich hab die 50 Wörter, die man für die Schilder brauchte, auswendig gelernt“, sagt er. Lesen konnte er sie nicht. Aber wieder erkennen. Für die theoretische Prüfung reichte das. „Die konnte ich mündlich machen“, sagt er. Der Fahrlehrer und der Fahrprüfer haben ihm das ermöglicht.

Seine Frau half ihm beim Lernen. In der Fahrschule genau wie später bei Lehrgängen für die Arbeit oder die Freiwillige Feuerwehr. „Die hätte meine Frau genauso mitschreiben können“, sagt er. Jetzt lacht er laut.

Auf der Straße suchte er sich Orientierungspunkte, fuhr auch weite Strecken mit dem Lkw. „Nicht ganz einfach, aber man findet Lösungen“, sagt er schulterzuckend. Als seine drei Kinder größer wurden und selbst anfingen, zu lesen, fand er Ausreden: „Wenn sie mit Hausaufgaben zu mir kamen, hab ich ihnen gesagt, dass ich keine Zeit hätte und sie damit zu ihrer Mutter gehen sollen“, erklärt er. Wieder muss er schmunzeln.

Dabei ist ihm eigentlich nicht zum Lachen zumute. Denn der Alltag sei unglaublich anstrengend: Eben weil er ständig nach Ausreden und Lösungen suchen müsse.

Analphabeten unter hohem Druck

Heidemarie Leukel, pensionierte Lehrerin für Erwachsenenbildung, leitet die Alphabetisierungskurse bei der VHS. Auch sie bestätigt den enormen Druck unter dem viele Teilnehmer stehen würden. Sie erinnert sich an einen Fall vor Jahren, bei dem ein Analphabet den Führerschein verlor. „Das war für ihn der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, erklärt sie. Der Mann habe sich das Leben genommen. Zweifellos ein extremes Beispiel.

Aber es verdeutliche eben auch das enorme Spannungsfeld, in dem die Menschen stehen würden. „Man darf da nie nur den Lerninhalt sehen, sondern muss immer den ganzen Menschen mit seiner Geschichte im Blick behalten. Problem: Der Druck steigt. Denn in immer mehr Berufen gehöre beispielsweise der Computer fest zum Arbeitsalltag. Immer seltener kommt man im Alltag ohne Lesen oder Schreiben klar.

Bernhard H. hat sich jedenfalls fest vorgenommen, dieses Mal durchzuhalten. Keine leichte Aufgabe: „Es hakt im Moment noch etwas“, gibt er zu. Einzelne Worte kann er inzwischen lesen. Komplette Texte fallen ihm aber noch sehr schwer. „Da springt der Funke einfach noch nicht über“, sagt er.

  • Für Erwachsene, die bei der VHS Lesen und Schreiben lernen wollen, gelten andere Regeln als bei anderen Kursen: Es gibt keine festen Start- oder Mindestlaufzeiten. Die Teilnahme ist kostenlos, die Kosten trägt der VHS-Zweckverband.
  • Die Kursgröße richtet sich nach den Bedürfnissen der Teilnehmer. Auch eine Einzelbetreuung ist möglich.
  • Fragen beantwortet Christiane Wielers-Umme, Tel. 0256195370 oder 02561953746; wielers-umme@vhs-aktuellesforum.de.